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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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liegen sollte.
    Er ging zu seinem Fenster; wie er so im Tageslicht stand, konnte man Tränenspuren auf seiner glatten, makellosen Haut erkennen. Seine Gesichtsknochen waren noch nicht voll ausgebildet, seine Nase fing gerade an, sich zu festigen und die kindliche Kontur zu verlieren, die Brauen wurden allmählich dunkler.
    »Cassian«, begann Hester mit leiser Stimme.
    »Ja, Ma’am?« Er drehte ihr langsam den Kopf zu.
    »Miss Buchan hatte recht, weißt du. Deine Mutter ist kein schlechter Mensch, und sie hat dich wirklich sehr lieb.«
    »Warum hat sie dann meinen Papa totgemacht?« Seine Lippen zitterten. Es gelang ihm nur mit größter Anstrengung, die Tränen zurückzuhalten.
    »Du hast deinen Papa geliebt?«
    Er nickte und steckte die Hand in den Mund. Hester bebte innerlich vor Wut.
    »Du hast ganz besondere Geheimnisse mit deinem Papa gehabt, nicht wahr?«
    Er zog die rechte Schulter hoch, und für einen kurzen Moment spielte ein angedeutetes Lächeln um seine Mundwinkel. Dann füllten sich seine Augen mit Angst und Mißtrauen.
    »Ich werde dich nicht ausfragen«, sagte sie sanft. »Nicht, wenn er dir erzählt hat, daß du es niemandem sagen darfst. Hast du das versprechen müssen?«
    Wieder ein Nicken.
    »Das war bestimmt ganz schön schwer für dich, was?«
    »Ja.«
    »Weil du es deiner Mutter nicht erzählen konntest?«
    Er schien plötzlich Angst zu bekommen und wich einen Schritt zurück.
    »War das wichtig, Mama nichts zu verraten?«
    Er nickte zögernd, den Blick unverwandt auf sie gerichtet.
    »Hättest du es ihr gern erzählt, anfangs?« Er stand völlig reglos da.
    Hester wartete. Wie aus weiter Ferne drang von der Straße ein schwaches Murmeln an ihr Ohr, das Rattern von Rädern, das Getrappel von Hufen. Vor dem Fenster wiegten sich Blätter im Wind und warfen zarte Schattenspiele an die Scheiben.
    Ein zaghaftes Nicken.
    »Hat es weh getan?«
    Diesmal ein längeres Zögern, dann ein erneutes Nicken.
    »Aber es war etwas sehr Erwachsenes, was ihr da getan habt, und du als Ehrenmann hast niemandem ein Sterbenswörtchen verraten?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Ich verstehe.«
    »Werden Sie es Mama sagen? Papa hat gemeint, wenn sie davon erfährt, würde sie mich hassen – sie hätte mich nicht mehr lieb, sie würde es nicht verstehen und mich wegschicken. Ist sie deshalb nicht mehr da?« Er schaute sie aus riesigen Augen an, Augen, in denen soviel Furcht und Resignation lag, als hätte er es tief in seinem Herzen bereits als unausweichliche Wahrheit akzeptiert.
    »Nein.« Sie schluckte schwer. »Sie ist nicht mehr da, weil man sie weggeholt hat, überhaupt nicht wegen dir. Und ich werde ihr bestimmt nichts sagen, aber ich glaube, sie weiß es vielleicht schon und haßt dich nicht im geringsten dafür. Sie könnte dich niemals hassen.«
    »Doch, das tut sie! Papa hat’s mir extra gesagt!« Panik schwang in seiner Stimme mit. Er wich noch ein Stück weiter zurück.
    »Nein, tut sie nicht! Sie hat dich ganz furchtbar lieb. So lieb, daß sie alles für dich tun würde.«
    »Wieso ist sie dann weggegangen? Sie hat Papa totgemacht, das weiß ich von Großmutter – und von Großvater. Großmutter sagt, daß man sie wegholt, daß sie nie mehr wiederkommt. Sie sagt, ich muß sie vergessen, darf nicht mehr an sie denken! Sie kommt nie mehr zurück!«
    »Willst du das denn – sie vergessen!« Es herrschte ein langes Schweigen.
    Seine Hand verschwand von neuem in seinem Mund. »Ich weiß nicht.«
    »Natürlich weißt du es nicht, tut mir leid. Ich hätte nicht fragen sollen. Bist du froh, daß es jetzt keiner mehr mit dir macht – was Papa gemacht hat?«
    Er senkte die Lider, hob die rechte Schulter und starrte auf den Boden.
    Hester spürte Übelkeit in sich hochsteigen.
    »Jemand anders macht es immer noch. Wer?« Er schluckte mühsam, sagte keinen Ton.
    »Irgend jemand also. Du mußt es mir nicht erzählen – nicht, wenn es ein Geheimnis ist.« Er sah zu ihr hoch.
    »Irgend jemand, ja?« wiederholte sie. Er nickte ganz langsam.
    »Nur einer?«
    Sein Blick heftete sich wieder auf den Boden.
    »In Ordnung – es ist dein Geheimnis. Wenn du irgendwann Hilfe brauchst oder jemanden, mit dem du reden kannst, dann geh zu Miss Buchan. Geheimnisse sind bei ihr gut aufgehoben, außerdem versteht sie das. Hast du gehört?«
    Ein Nicken.
    »Und vergiß nicht, deine Mama hat dich sehr lieb, und ich werde alles versuchen, damit sie zu dir zurückkommt. Ich verspreche es dir.«
    Er schaute sie fest an, seine blauen

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