Eine Spur von Verrat
hätte.
Hinter der Mauer des Obstgartens stieg eine weitere Wolke kreischender Stare zum blassen Himmel empor und zog elegant ihre Kreise, dunkle Flecken vor dem letzten rotgoldenen Aufbäumen der untergehenden Sonne. Die seit kurzem blühenden Geißblattbüsche verströmten einen derart starken Duft, daß ihn der schwache Abendwind über den Rasen bis zu ihrem Standort hinübertrieb. Oliver wurde unvermittelt von seinen Gefühlen überwältigt. Er empfand den starken Drang, die Schönheit des Augenblicks festzuhalten, was jetzt und immer unmöglich war, wurde von Einsamkeit übermannt, weil er sich dennoch danach sehnte, und spürte Bedauern, Verwirrung und nagende Hoffnung, alles auf einmal. Er sagte nichts, denn nur im Schweigen war genügend Platz, diese Empfindungen zu umarmen, ohne ihren Kern zu beschädigen oder zu zerstören.
Am nächsten Morgen ging er noch vor Verhandlungsbeginn zu Alexandra Carlyon. Er hatte keine Ahnung, was er ihr sagen sollte, aber sie mit sich allein zu lassen wäre unverzeihlich gewesen. Sie saß in der gerichtseigenen Verwahrungszelle und fuhr sofort auf ihrem Stuhl herum, als sie seine Schritte vernahm. Ihre Augen wirkten unnatürlich groß, ihr Gesicht hatte jegliche Farbe verloren. Sie verströmte eine für ihn nahezu greifbare Furcht.
»Sie hassen mich«, sagte sie nur, aber ihre Stimme verriet, wie mühsam sie die Tränen zurückhielt. »Sie haben sich längst ein Urteil gebildet, sie sind gar nicht mehr mit dem Kopf dabei. Ich habe gehört, wie eine Frau schrie: ›Hängt sie endlich auf!‹« Sie rang mühsam um Beherrschung und wäre fast gescheitert.
»Wenn schon eine Frau so empfindet, was kann ich dann erst von den Geschworenen erwarten, die allesamt Männer sind?«
»Viel mehr«, erwiderte er sanft und staunte selbst über die Sicherheit in seiner Stimme. Er nahm spontan ihre Hände, die zunächst vollkommen schlaff waren, als gehörten sie einer Todkranken. »Sehr viel mehr«, wiederholte er sogar noch überzeugter. »Diese Frau, die Sie gehört haben, war verängstigt, weil sie ihren eigenen Status bedroht sieht, wenn man Sie einfach gehen läßt und die Gesellschaft Ihre Tat akzeptiert. Ihr ganzer Wert besteht in ihren Augen in ihrer unumstößlichen Tugendhaftigkeit. Was hätte sie sonst schon zu bieten? Sie ist nicht besonders talentiert, weder schön noch reich, hat keinen gesellschaftlichen Rang, nur ihre untadelige Rechtschaffenheit – und genau aus diesem Grund muß Rechtschaffenheit ihren unanfechtbaren Wert behalten. Sie versteht Rechtschaffenheit nicht als etwas Positives wie Großzügigkeit, Geduld, Mut und Güte, nur als das völlige Fehlen jeglichen Makels. Das ist soviel leichter zu erreichen.«
Sie verzog die Lippen zu einem freudlosen Lächeln. »Das klingt alles sehr plausibel, aber für mich ist es etwas anderes. Für mich ist es Haß.« Ihre Stimme schwankte.
»Natürlich ist es Haß – weil es aus Angst entspringt, und Angst ist eine der häßlichsten Emotionen, die es gibt. Später, wenn sie die Wahrheit kennt, wird sich dieses Gefühl drehen wie der Wind und dann genauso heftig aus der anderen Richtung blasen.«
»Glauben Sie wirklich?« Ihr Ton enthielt nicht die Spur Hoffnung, ihr Blick war stumpf.
»Ja«, sagte er entschiedener, als ihm zumute war. »Der Haß wird in Mitgefühl und Zorn umschlagen – und in die grauenhafte Furcht, daß es auch den eigenen geliebten Angehörigen passieren könnte, den eigenen Kindern. Die Menschen sind zu bodenloser Gemeinheit und Dummheit fähig, aber Sie werden unter denselben Leuten viele finden, die auch genauso zu Mut und Verständnis imstande sind. Wir müssen ihnen die Wahrheit sagen, damit sie eine Chance bekommen.«
Sie wandte sich zitternd von ihm ab.
»Sie wollen Schweine zum Fliegen bringen, Mr. Rathbone. Sie werden Ihren Worten keinen Glauben schenken, aus genau den Gründen, die Sie eben genannt haben. Thaddeus war ein Held – die Art von Held, an die sie glauben können müssen, weil Hunderte davon in der Armee sind und somit für unsere Sicherheit und den Aufbau des Empires sorgen.« Sie sackte in sich zusammen. »Sie beschützen uns vor echten Gefahren von außen und vor gefährlichen Zweifeln in unserem Innern. Was, denken Sie, geschieht, wenn Sie das Bild des britischen Soldaten zerstören? Das Bild des Rotrocks, der es mit ganz Europa aufgenommen und Napoleon in die Knie gezwungen, England vor den Franzosen bewahrt, sich Afrika, Indien, Kanada, ja ein Viertel der Welt angeeignet
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