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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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führen, finden Sie nicht? Was nicht wächst, könnte schnell die ersten Anzeichen von Verkümmerung zeigen.«
    Zwei heftig tuschelnde Anwälte gingen an ihnen vorbei. Sie verstummten kurz und bedachten Rathbone mit einem sonderbaren Blick, ehe sie ihr Gespräch fortsetzten.
    »Das mag ja alles stimmen«, räumte Lovat-Smith lächelnd ein, ohne die Augen von Rathbones Gesicht zu lassen, »aber diese ganze hübsche Philosophie hat nichts mit dem Fall Carlyon zu tun. Haben Sie die Absicht, auf verminderte Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren? Sie haben sich recht viel Zeit damit gelassen – der Richter wird nicht gerade begeistert sein, daß Sie jetzt erst damit kommen. Sie hätten von vornherein einen Antrag auf Mord in geistiger Umnachtung stellen sollen. Auf der Ebene wäre ich Ihnen entgegengekommen.«
    »Halten Sie sie für geistig umnachtet?« fragte Rathbone ungläubig, die Brauen weit hochgezogen.
    Lovat-Smith verzog das Gesicht. »Sie macht nicht den Eindruck. Doch angesichts der meisterhaften Art, wie Sie bewiesen haben, daß niemand an eine Affäre zwischen dem General und Mrs. Carlyon glaubte, nicht einmal sie selbst, bleibt kaum eine Alternative, oder? Ist es nicht das, worauf Sie hinauswollen: daß ihr Verdacht unbegründet war und infolgedessen verrückt?«
    Rathbones Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen.
    »Kommen Sie, Wilberforce, tun Sie nicht wie ein Anfänger. Sie hören meine Verteidigungsrede noch früh genug, gemeinsam mit dem Rest des Gerichts.«
    Lovat–Smith schüttelte den Kopf. Zwischen seinen dunklen Brauen klaffte eine tiefe Furche.
    Rathbone verabschiedete sich mit einer leicht spöttischen Geste sowie erheblich mehr Selbstsicherheit, als er tatsächlich empfand, und wandte sich zum Gehen. Lovat-Smith blieb reglos und tief in Gedanken auf der breiten Treppe vor dem Gerichtssaal stehen, offenbar ohne sich des Treibens oder des auf– und abschwellenden Stimmengewirrs um sich herum bewußt zu sein.
    Statt nach Hause zu fahren, was eventuell besser gewesen wäre, begab Rathbone sich mit einem Hansom nach Primrose Hill, um dort mit seinem Vater zu Abend zu essen. Er fand Henry Rathbone im Garten vor, wo er versonnen den jungen Mond betrachtete, der bleich am Himmel über dem Obstgarten schwebte. Die Luft war erfüllt vom Gesang herumschwirrender Stare und dem gelegentlichen Warnruf einer Drossel oder eines Buchfinken.
    Sie standen eine Weile schweigend da und ließen zu, daß der Abendfriede die kleinen Sorgen und Kümmernisse des Tages beschwichtigte. Gewichtigere Dinge wie Schmerz und Enttäuschung wurden konkreter, erträglicher und weniger bedrohlich. Wut löste sich auf.
    »Entwickeln sich die Dinge gut?« erkundigte sich Henry Rathbone schließlich, seinem Sohn halb zugewandt.
    »So gut wie erwartet, nehme ich an«, gab Oliver zurück.
    »Lovat-Smith glaubt, ich hätte die Dinge nicht mehr im Griff, weil ich den Fall überhaupt erst angenommen habe. Im nüchternen Licht des Gerichtssaals sieht es tatsächlich nach einem verrückten Unterfangen aus. Manchmal frage ich mich schon selbst, ob ich noch daran glaube. General Thaddeus Carlyons öffentliches Ansehen ist tadellos, das private fast ebenso unbescholten.« Er erinnerte sich lebhaft an seines Vaters Zorn und Ekel, als er ihm von dem Mißbrauch erzählt hatte, und ging seinem Blick aus dem Weg.
    »Wer hat heute alles ausgesagt?« fragte Henry ruhig.
    »Die Furnivals zum Beispiel. Gott, wie ich Louisa Furnival verabscheue!« brach es überraschend heftig aus ihm hervor.
    »Sie ist das völlige Gegenteil von allem, was ich an einer Frau anziehend finde. Falsch, berechnend, völlig von sich eingenommen, humorlos, materialistisch und kalt wie ein Stein. Trotzdem konnte ich ihr im Zeugenstand nichts nachweisen.« Sein Gesicht wurde hart. »Wie gern ich es auch getan hätte. Ich würde sie mit Vergnügen in Stücke reißen!«
    »Was macht Hester Latterly?«
    »Wie bitte?«
    »Was macht Hester?« wiederholte Henry.
    »Wie kommst du denn jetzt darauf?« Oliver verdrehte die Augen.
    »Durch das Gegenteil von allem, was du an einer Frau anziehend findest«, erwiderte sein Vater mit einem gelassenen Lächeln.
    Oliver wurde rot, was nicht häufig geschah. »Ich habe sie nicht gesehen«, erklärte er und kam sich dabei lächerlich ausweichend vor, obwohl es der Wahrheit entsprach.
    Henry sagte nichts mehr, was für Oliver verrückterweise schlimmer war, als wenn er nicht lockergelassen und ihm dadurch die Möglichkeit zum Streiten gegeben

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