Eine Spur von Verrat
hat?«
»All das bedeutet lediglich, daß wir uns in der schwächeren Position befinden.« Rathbone verlieh seiner Stimme bewußt einen härteren Klang, um sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen. »Derselbe Rotrock wäre niemals vom Schlachtfeld geflohen, nur weil seine Aussichten auf Erfolg gering waren. Sie haben seine Geschichte nicht richtig studiert, wenn Sie das auch nur einen Moment in Betracht ziehen. Seine glänzendsten Siege hat er davongetragen, wenn zahlenmäßig unterlegen und eindeutig im Nachteil.«
»Wie beim Angriff der Light-Brigade?« versetzte sie mit plötzlichem Sarkasmus. »Wissen Sie, wie viele dabei den Tod gefunden haben? Und das für nichts und wieder nichts!«
»Ja, jeder sechste, und nur der Himmel weiß, wieviel Hundert schwer verwundet wurden«, erwiderte er tonlos, sich der brennenden Hitze in seinen Wangen deutlich bewußt. »Ich dachte eher an die ›schmale rote Gefechtslinie‹, die, wenn Sie sich sorgfältig erinnern, nur einen einzigen Mann breit war und den Feind dennoch so lange zurückhalten konnte, bis die Attacke abflaute und schließlich abgeblasen wurde.«
Um ihren breiten Mund spielte ein Lächeln, in ihren Augen standen Tränen und Ungläubigkeit.
»Ist es das, was Sie vorhaben?«
»Allerdings.«
Er sah, daß sie immer noch Angst hatte, konnte es fast körperlich spüren, aber sie besaß nicht mehr die Kraft, gegen ihn anzukämpfen. Sie wandte sich vollends ab – ein Zeichen ihrer Kapitulation, ein Wink, daß er gehen sollte. Sie wollte allein sein, denn sie mußte sich wappnen für einen weiteren Tag voll Scham, Hilflosigkeit und Furcht.
Der erste Zeuge war Charles Hargrave. Lovat-Smith forderte ihn auf, den bereits festgestellten Verlauf der Dinnerparty zu bestätigen, wollte aber in erster Linie alles darüber wissen, wie er die Leiche des Generals gefunden hatte.
»Mr. Furnival kam in den Salon zurück und sagte, der General hätte einen Unfall erlitten, ist das richtig?«
Hargrave wirkte ausgesprochen ernst. Seine Miene verriet sowohl die Gravidität seiner Profession, wie auch seine persönliche Betroffenheit. Die Geschworenen lauschten seinen Worten mit einer Andacht, die den erlauchten Mitgliedern diverser Berufsstände reserviert war: Mediziner, kirchliche Würdenträger und Anwälte, die sich mit den Hinterlassenschaften des Todes beschäftigten.
»Völlig richtig«, entgegnete Hargrave. Der Anflug eines Lächelns streifte sein aufgewecktes, verwegenes Gesicht.
»Vermutlich drückte er sich deshalb so aus, weil er keine Panik auslösen wollte.«
»Warum sagen Sie das, Doktor?«
»Weil ich auf den ersten Blick gesehen habe, daß er tot war, als ich in die Halle kam. Auch jemand ohne medizinische Vorkenntnisse hätte das sofort festgestellt.«
»Würden Sie die Art der Verletzungen einmal beschreiben ausführlich, bitte?«
Die Geschworenen rutschten mit teils betretenen, teils gespannten Mienen auf ihren Plätzen herum.
Ein Schatten glitt über Hargraves Gesicht, aber er hatte zuviel Erfahrung, um eine Erklärung zu verlangen.
»Selbstverständlich. Als ich ihn vorfand, lag er auf dem Rücken, den linken Arm fast in einer Linie mit der Schulter ausgestreckt, aber am Ellbogen abgewinkelt. Der rechte lag neben dem Körper, die Hand circa dreißig Zentimeter von der Hüfte entfernt. Die Beine waren gebeugt, das rechte lag im Knie abgewinkelt unter ihm und war meiner Ansicht nach kurz unterhalb der Kniescheibe gebrochen, das linke auffallend verdreht. Diese Eindrücke wurden später bestätigt.« Ein undefinierbarer Ausdruck, bei dem es sich jedoch nicht um Selbstgefälligkeit zu handeln schien, glitt über sein Gesicht. Sein Blick ruhte unverwandt auf Lovat-Smith, ohne auch nur einmal zu der Frau auf der Anklagebank abzuschweifen.
»Welche Verletzungen entdeckten Sie sonst noch, Doktor Hargrave?«
»Außer einer leicht blutenden Quetschung oberhalb der linken Schläfe, wo er mit dem Kopf aufgeschlagen war, war nichts zu sehen. Es gab zwar Blut, aber nicht viel.«
Die Leute auf der Galerie verdrehten die Köpfe nach Alexandra. Man hörte das Zischen von eingezogenem Atem und ein leises Murren.
»Habe ich Sie recht verstanden, Doktor?« Lovat-Smith hielt eine kräftige, kurzfingrige Hand in die Luft. »Sie konnten lediglich eine Wunde am Kopf entdecken?«
»Jawohl.«
»Was schlossen Sie, in ihrer Eigenschaft als Mediziner, daraus?«
Hargrave hob kaum merklich seine breiten Schultern. »Daß er auf direktem Weg über das Geländer
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