Eine Spur von Verrat
natürlich nicht. Ich denke nur manchmal, wenn wir realistisch sind, müssen wir uns mit dem Gedanken anfreunden, womöglich zu verlieren.«
Callandra schwieg ganz bewußt und sah sie abwartend an. Hester begegnete ihrem Blick und begann nach und nach zu denken.
»Der General ist von seinem Vater mißbraucht worden.« Sie suchte verzweifelt irgendeinen Punkt, an dem sie ansetzen konnte. »Er wird vermutlich nicht aus heiterem Himmel selbst damit angefangen haben, was denken Sie?«
»Keine Ahnung. Mein Verstand sagt mir nein.«
»Es muß etwas geben in der Vergangenheit; wenn wir nur wüßten, wo wir suchen sollen. Ja, wir müssen die anderen finden – die anderen, die so etwas Entsetzliches tun. Aber wo? Den alten Colonel zu beschuldigen hat keinen Sinn, wir könnten es ihm niemals nachweisen. Genau wie jeder andere wird er es schlicht und einfach abstreiten, und der General ist tot.«
Sie ließ sich langsam zurücksinken. »Was sollte es uns außerdem bringen? Selbst wenn wir beweisen könnten, daß jemand anders es getan hat, sagt das noch lange nichts über den General, oder daß Alexandra davon wußte. Ich weiß nicht, wo anfangen, und die Zeit wird allmählich knapp.« Sie schaute Callandra unglücklich an. »Oliver muß spätestens in ein paar Tagen mit der Verteidigung beginnen. Lovat-Smith ist bis über die Ohren mit schlagenden Beweisen eingedeckt. Wir haben bisher noch überhaupt nichts Nennenswertes erreicht – abgesehen davon, daß Alexandra keine Eifersucht nachgewiesen werden konnte.«
»Nicht die anderen Mißbraucher«, sagte Callandra ruhig. »Die anderen Opfer. Wir müssen uns die Armeeakten noch einmal vornehmen.«
»Wir haben keine Zeit mehr«, begehrte Hester verzweifelt auf. »Das kann Monate dauern, und wer weiß, ob wir überhaupt auf etwas stoßen.«
»Wenn er es bei der Armee auch getan hat, werden wir auf etwas stoßen.« Callandras Stimme enthielt nicht den leisesten Zweifel, keine Spur Unsicherheit. »Sie verfolgen weiterhin den Prozeß, und ich mache mich auf die Suche nach irgendeinem Ausrutscher seinerseits. Vielleicht gibt es einen genügend gedemütigten jungen Trommler oder Kadetten, der nicht mehr länger schweigen will.«
»Glauben Sie wirklich…?« Hester wurde von vollkommen ungerechtfertigter, närrischer Hoffnung gepackt.
»Beruhigen Sie sich, ordnen Sie Ihre Gedanken«, rief Callandra sie in barschem Ton zur Räson. »Erzählen Sie mir lieber noch einmal alles, was Sie über die unglückselige Geschichte wissen.«
Oliver Rathbone wollte, nachdem die Verhandlung vertagt worden war, das Gerichtsgebäude gerade verlassen, als Lovat-Smith ihn mit sichtlich neugieriger Miene abfing. Rathbone, der ihm ohnehin schlecht ausweichen konnte, war nicht einmal sicher, ob er es wollte. Er hatte das Bedürfnis, mit ihm zu sprechen, so wie man gelegentlich den Drang verspürt, eine Wunde auf ihre Tiefe und Schmerzhaftigkeit hin zu untersuchen.
»Was in aller Welt hat Sie nur bewogen, diesen Fall zu übernehmen?« Lovat-Smiths hochintelligenter Blick bohrte sich forschend in seinen. Fast glaubte Rathbone, einen Anflug von seltsam verschrobenem Mitleid darin zu erkennen; vielleicht auch jede Menge andere Gefühlsregungen, alle gleichermaßen unangenehm. »Worauf wollen Sie überhaupt hinaus? Sie scheinen sich nicht einmal Mühe zu geben. Sie hoffen umsonst auf ein Wunder, das müssen Sie doch wissen. Sie hat es getan!«
Lovat-Smiths Spitze hatte eine belebende Wirkung auf Rathbone; sie weckte seinen Kampfgeist. Er schaute den Kollegen an einen Mann, den er respektierte, vermutlich sogar gemocht hätte, würde er ihn besser kennen. Sie hatten viel gemeinsam.
»Ja, sie hat es getan«, entgegnete er mit einem humorlosen kleinen Lächeln. »Habe ich Ihnen Angst eingejagt, Wilberforce?«
»Sie haben mich beunruhigt, Oliver, sehr beunruhigt«, sagte Lovat-Smith mit wachem Blick. »Ich würde nicht gern mitansehen, wie Sie Ihren Ruf verlieren. Ihr juristisches Geschick war bislang einer der Glanzpunkte in unserem Berufsstand. Es wäre… überaus bedenklich«, er wählte das Wort mit Bedacht, »wenn Sie plötzlich den Boden unter den Füßen verlieren würden. Welche Sicherheit bliebe uns anderen dann noch?«
»Sehr freundlich von Ihnen«, murrte Rathbone sarkastisch.
»Aber ein leicht errungener Sieg verblaßt mit der Zeit. Wenn man immer gewinnt, versucht man vielleicht nur noch das, was bequem im Rahmen der eigenen Möglichkeiten liegt – und das kann leicht zum Untergang
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