Eine Spur von Verrat
Reaktion zu erreichen.
»Ja«, sagte Hargrave kaum hörbar. »Ich bedaure, aber das lag auf der Hand. Es tut mir leid.« Zum ersten und einzigen Mal sah er zu Alexandra hoch.
»In der Tat keine schöne Erkenntnis«, pflichtete Lovat-Smith ihm feierlich bei. »Und daraufhin verständigten Sie die Polizei?«
»Jawohl.«
»Danke.«
Rathbone betrachtete die Geschworenen. Nicht einer schaute zur Anklagebank. Alexandra saß reglos dort, die blauen Augen auf ihn gerichtet – ohne Wut, ohne Überraschung und ohne jegliche Hoffnung.
Er lächelte ihr zu und kam sich vor wie ein Idiot.
10
Monk verfolgte Lovat-Smiths Zeugenbefragung mit wachsender Sorge. Charles Hargrave machte auf die Geschworenen einen sichtlich exzellenten Eindruck, wie er ihren todernsten, aufmerksamen Mienen entnahm. Sie schätzten ihn nicht nur, sie glaubten ihm. Ganz gleich, was er über die Carlyons zu sagen hatte, sie würden es schlucken.
Obwohl Monks Verstand ihm ohne Wenn und Aber sagte, daß Rathbone momentan die Hände gebunden waren, machte ihm diese Hilflosigkeit schwer zu schaffen. Er spürte, wie Wut in ihm hochstieg, wie seine Hände sich zu Fäusten ballten und die Muskeln in seinem Nacken hart wurden.
Lovat-Smith hatte sich mittlerweile vor dem Zeugenstand aufgebaut. Er machte keine besonders elegante Figur – Eleganz war nichts, das ihm in die Wiege gelegt worden war –, strahlte aber eine ungeheure Vitalität aus, die wesentlich mehr brachte, wenn es darum ging, die Aufmerksamkeit auf längere Sicht zu fesseln. Zudem verstand er es wie ein Schauspieler, seine volltönende, angenehme Stimme gezielt einzusetzen.
»Dr. Hargrave, Sie kennen die Familie Carlyon bereits seit vielen Jahren und haben ihr in dieser Zeit oft mit Ihrem medizinischen Rat zur Seite gestanden, ist das richtig?«
»Jawohl.«
»Dann müßten Sie in der Lage sein, die einzelnen Charaktere und ihre Beziehungen zueinander relativ gut beurteilen zu können.«
Rathbone versteifte sich, sagte jedoch nichts.
Lovat-Smith schmunzelte, warf seinem Kollegen einen kurzen Blick zu und konzentrierte sich wieder auf Hargrave.
»Achten Sie bitte darauf, nur anhand Ihrer persönlichen Beobachtungen zu antworten«, warnte er ihn. »Wiederholen Sie nichts, das Ihnen jemand erzählt hat, es sei denn, es betrifft sein eigenes Verhalten – und geben Sie hier bitte kein subjektives Urteil ab, lediglich die Gründe, auf denen es basiert.«
»Ich bin mit den Regeln eines Gerichtshofes vertraut«, gab Hargrave mit einem ausgesprochen düsteren Lächeln zurück.
»Das ist nicht meine erste Zeugenaussage. Was möchten Sie wissen?«
Peinlich darauf bedacht, die Bestimmungen nicht zu verletzen, entlockte Lovat-Smith ihm über den ganzen Vormittag hinweg bis spät in den Nachmittag hinein ein überaus positives Bild von Thaddeus Carlyon: ein aufrechter, ehrenwerter Mann sei er gewesen, ein Kriegsheld, der es prächtig verstand, seine Leute zu führen; ein glänzendes Vorbild für die Jugend, der sich Mut, Disziplin und Ehrgefühl zum Ziel gemacht hatte; ein mustergültiger Ehemann, der niemals gewalttätig oder grausam zu seiner Frau war, der keine übertriebenen Ansprüche an ihre ehelichen Pflichten stellte und ihr doch drei prächtige Kinder geschenkt hatte, denen er ein über die Maßen liebevoller Vater war. Sein Sohn habe ihn angebetet und dies zu Recht, denn er verbrachte viel Zeit mit ihm und war sehr um seine Zukunft besorgt. Es existiere nicht der geringste Hinweis, daß er jemals untreu war, exzessiv trank oder spielte, sie knapp bei Kasse hielt, sie kränkte, in aller Öffentlichkeit demütigte oder in irgendeiner anderen Hinsicht anders behandelte als außergewöhnlich gut.
Ob er jemals geistig oder emotional instabil gewirkt hätte? Nein, ganz und gar nicht; die Vorstellung wäre geradezu lächerlich, wenn nicht sogar beleidigend.
Und die Angeklagte, die ja ebenfalls zu seinen Patienten gehört hatte?
Nun, bei ihr verhalte es sich bedauerlicherweise anders. Sie regte sich im Lauf des vergangenen Jahres oft ohne ersichtlichen Grund furchtbar auf, verfiel von Zeit zu Zeit in tiefe Depression und wurde von Weinkrämpfen überkommen, für die sie keinerlei Erklärung abgab, entfernte sich häufig und ohne Angabe eines Aufenthaltsorts vom ehelichen Heim und brach heftige Streite mit ihrem Mann vom Zaun.
Die Blicke der Geschworenen ruhten auf Alexandra, nun aber mit offenkundiger Scham, als wäre ihr Anblick zu unanständig, um erträglich zu sein. Sie sahen sie an
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