Eine Spur von Verrat
wie jemanden, der splitternackt durch die Straßen lief oder bei der Ausübung des Liebesakts erwischt worden war.
»Wie kommen Sie darauf, Mr. Hargrave?« erkundigte sich Lovat-Smith beiläufig.
Rathbone zeigte keinerlei Reaktion.
»Die Auseinandersetzungen fanden selbstverständlich nicht in meinem Beisein statt«, sagte Hargrave und biß sich auf die Lippe. »Aber die Weinkrämpfe und die depressiven Zustände habe ich miterlebt, und daß sie nicht zu Hause war, war für niemanden ein Geheimnis. Es passierte mehr als einmal, daß sie das Haus ohne Angabe von Gründen verlassen hatte, wenn ich vorbeischaute. Ihre Übererregbarkeit während meiner Hausbesuche, deren Ursache sie mir niemals mitteilte, war leider nicht zu übersehen. Sie war verstört bis zur Hysterie – und ich verwende dieses Wort mit voller Absicht –, aber sie verriet mir nicht warum. Alles, was sie von sich gab, waren wüste Andeutungen und Beschuldigungen.«
»So, und worum ging es dabei?« Lovat-Smith runzelte verblüfft die Stirn. Er ließ seine Stimme dramatisch anschwellen, als wäre ihm die Antwort ein völliges Rätsel, doch nach Monks Empfinden kannte er sie sehr gut. Er war viel zu erfahren, um eine Frage zu stellen, deren Antwort ihm nicht im vorhinein bekannt war – auf der anderen Seite standen seine Aussichten auf Erfolg bei diesem Prozeß derart gut, daß er das Risiko womöglich einging.
Begleitet von leisem Stoffrascheln, lehnten sich die Geschworenen ein wenig vor. Hester, die neben Monk saß, spannte jeden Muskel an. Die Zuschauer in der näheren Umgebung fühlten sich nicht zu solchem Taktgefühl verpflichtet wie die Mitglieder der Jury. Mit angehaltenem Atem starrten sie Alexandra unverhohlen an.
»Bezichtigte sie den General der Untreue?« soufflierte Lovat-Smith.
Der Richter sah Rathbone an. Lovat-Smith hatte eine Suggestivfrage gestellt. Rathbone verzog keine Miene. Der Richter schaute unwillig drein, enthielt sich jedoch eines Kommentars.
»Nein«, sagte Hargrave zögernd; er holte tief Luft. »Ihre Anschuldigungen waren recht unkonkret, ich wußte nicht genau, worauf sie hinauswollte. Ich glaube, sie verteilte einfach wilde Hiebe nach allen Seiten. Sie war hysterisch; es ergab keinen Sinn.«
»Ich verstehe. Vielen Dank, Dr. Hargrave. Behalten Sie bitte Platz, falls mein Herr Kollege noch Fragen an Sie haben sollte.«
»Die habe ich in der Tat«, schnurrte Rathbone und sprang mit einer katzengleichen Bewegung auf. »Sie haben sich sehr offen über die Carlyons geäußert, und ich gehe einmal davon aus, daß Sie uns wirklich alles erzählt haben, was Sie wissen, so belanglos Ihr Bericht im Grunde auch war.« Er blickte zum Zeugenstand hoch, der wie eine Kanzel über dem Boden schwebte. »Ist es richtig, Dr. Hargrave, daß Ihr freundschaftliches Verhältnis zur Familie Carlyon fünfzehn bis sechzehn Jahre zurückreicht?«
»Ja, das ist richtig.« Hargrave war verwirrt. Diese Frage hatte er Lovat-Smith bereits beantwortet.
»Auch, daß diese Freundschaft, von der mit General Carlyon einmal abgesehen, vor etwa vierzehn Jahren aufhörte und Sie seitdem nicht mehr viel mit dem Rest der Familie zu tun hatten?«
»Ja – so könnte man sagen.« Hargrave machte einen widerwilligen, aber nicht verärgerten Eindruck. Offenbar erschien es ihm nicht weiter wichtig.
»Sie könnten folglich keine zuverlässige Auskunft über, sagen wir, Mrs. Felicia Carlyons Charakter erteilen beziehungsweise über den ihres Gatten, Colonel Randolf Carlyon?«
Hargrave zuckte die Achseln, was seltsam anmutig aussah.
»Und wenn schon. Das dürfte kaum von Belang sein. Sie stehen nicht vor Gericht.«
Rathbone schenkte ihm ein Lächeln, das seine gesamten Zähne entblößte.
»Also galt Ihre Freundschaft in erster Linie General Carlyon?«
»Ja. Ich habe sowohl ihn als auch seine Frau und Kinder ärztlich betreut.«
»Richtig, darauf komme ich noch zurück. Sie sagten, die Angeklagte hätte begonnen, Anzeichen für eine starke seelische Anspannung zu zeigen? Sie benutzten in dem Zusammenhang sogar den Ausdruck Hysterie?«
»Ja. Leider kann ich es nicht anders nennen.«
»Wie genau hat sie sich verhalten, Doktor?«
Hargrave machte ein betretenes Gesicht. Er schaute den Richter an, der seinem Blick mit Schweigen begegnete.
»Die Frage mißfällt Ihnen?« erkundigte sich Rathbone freundlich.
»Es erscheint mir unnötig… bloßstellend, über die wunden Punkte einer Patientin zu sprechen«, erwiderte Hargrave, doch seine Augen blieben
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