Eine Spur von Verrat
typisch für Damaris, dieses Nebeneinander von dem, was konventionell, und dem, was frevelhaft war. Auf der einen Seite die Annehmlichkeiten des Reichtums, ein erlesener Geschmack und die Sicherheit überlieferter Ordnung – auf der anderen ungestüme Rebellion und aufreizende Disziplinlosigkeit. An einer Wand hingen idyllische Landschaftsbilder, an der gegenüberliegenden zwei Reproduktionen von William Blakes barbarischeren, feurigeren Interpretationen der menschlichen Gestalt. Auf ein und demselben Bücherregal waren Religion, Philosophie und verwegene Abstecher in die Gefilde innovativer Politik vertreten. Die Kunstgegenstände waren rührselig oder blasphemisch, kostbar oder geschmacklos grell, praktisch oder nutzlos – persönlicher Geschmack Seite an Seite mit dem Wunsch zu schockieren. Es war das Zimmer zweier völlig verschiedener Menschen oder aber das einer einzigen Person, die zwei gegensätzlichen Welten das Beste abzugewinnen versuchte, um auf kühne Entdeckungsreise gehen und zugleich die Bequemlichkeit und Sicherheit des Althergebrachten festhalten zu können.
Als Damaris schließlich hereinkam, trug sie ein sichtlich nagelneues Kleid, das jedoch so auf alt gemacht war, daß es beinah an die Mode zur Zeit des französischen Imperiums erinnerte. Im ersten Moment war Hester befremdet, doch nachdem sie den anfänglichen Schock überwunden hatte, stellte sie fest, wie gefällig der Stil war. Ihm haftete etwas wesentlich Natürlicheres an als der jetzigen Mode mit den Unmengen steifer Petticoats über starren Reifröcken, zudem war es bestimmt tausendmal bequemer. Nichtsdestotrotz hatte Hester kaum Zweifel, daß Damaris es nicht aus Gründen der Bequemlichkeit, sondern des Effekts wegen ausgesucht hatte.
»Schön, Sie zu sehen«, sagte Damaris warm. Ihr Gesicht war blaß, und unter ihren Augen lagen tiefe Schatten, als hätte sie nächtelang nicht richtig geschlafen. »Edith meinte, Sie möchten den Fall mit mir besprechen. Ich weiß nicht, was ich Ihnen dazu sagen soll. Das Ganze ist eine einzige Katastrophe, finden Sie nicht?« Sie warf sich aufs Sofa, zog automatisch die Beine an und schenkte Hester ein eher mattes Lächeln. »Ich fürchte, Ihr Mr. Rathbone hat etwas den Boden unter den Füßen verloren – er ist nicht clever genug, um Alexandra aus diesem Schlamassel rauszupauken.« Sie schnitt eine Grimasse. »Aber soviel ich gesehen habe, scheint er es nicht einmal zu versuchen. Was er bis jetzt geleistet hat, kann doch jeder. Woran liegt das, Hester? Glaubt er nicht, daß es die Sache wert ist?«
»O doch«, gab Hester hastig zurück. Es schmerzte, was Damaris von Rathbone dachte, genau wie das, was sie ihr gleich sagen mußte. Sie setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl.
»Seine Zeit ist nur noch nicht gekommen. Bald ist es soweit.«
»Aber dann ist es zu spät. Die Geschworenen haben sich bereits entschieden. Haben Sie ihnen das etwa nicht angesehen? Ich schon.«
»Nein, es ist noch nicht zu spät. Es werden ein paar Tatsachen ans Licht kommen, die alles verändern. Glauben Sie mir.«
»Und die wären?« Damaris machte ein skeptisches Gesicht.
»Ich kann mir nicht vorstellen, was das sein sollte.«
»Wirklich nicht?«
Damaris sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Das klingt so bedeutungsvoll – als ob Sie mir nicht glauben würden. Mir fällt beim besten Willen nichts ein, was die Geschworenen von ihrer momentanen Überzeugung abbringen könnte.«
Hester blieb keine andere Wahl, sosehr es ihr auch zuwider war, und es war ihr unendlich zuwider. Sie kam sich gemein, ja mehr als das, sie kam sich richtig heimtückisch vor.
»Sie waren am Mordabend bei den Furnivals«, begann sie vorsichtig, obwohl sie damit nichts Neues zur Diskussion stellte.
»Aber ich weiß nichts«, wiederholte Damaris absolut offen.
»Um Himmels willen, wenn doch, hätte ich es längst gesagt!«
»Hätten Sie? Egal wie grauenhaft es war?«
Damaris runzelte die Stirn. »Grauenhaft? Alexandra hat Thaddeus über das Treppengeländer gestoßen, ist ihm dann nach unten gefolgt, hat die Hellebarde genommen und ihm in die Brust gestoßen, während er besinnungslos am Boden lag. Ist das nicht grauenhaft genug? Was könnte noch schlimmer sein?«
Hester schluckte, hielt ihrem Blick jedoch stand.
»Das, was Sie herausgefunden haben, als Sie vor dem Essen bei Valentine waren – lange bevor Thaddeus ermordet wurde.« Damaris wurde leichenblaß. Sie sah plötzlich krank und verwundbar aus und wirkte sehr viel
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