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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Meinen Sie etwa, ich würde seinen Körper nicht immer wieder vor mir sehen, wie er da auf dem Boden lag, nachts, wenn ich schlaflos im Dunkeln liege? Ich träume davon – ich habe diese scheußliche Tat schon tausendmal in meinen Alpträumen wiedererlebt und wache jedesmal in Schweiß gebadet und mit einem Gefühl eisiger Kälte daraus auf. Ich habe entsetzliche Angst, daß Gott mich richten und auf ewig verdammen wird!«
    Sie kauerte sich noch mehr in sich zusammen. »Aber ich konnte nicht tatenlos dasitzen und zusehen, was mit meinem Kind geschah! Sie haben ja keine Vorstellung, wie sehr er sich plötzlich veränderte. Er verlor seine ganze Fröhlichkeit, seine gesamte Unschuld. Er wurde verschlagen. Er hatte auf einmal Angst vor mir – vor mir! Er vertraute niemandem mehr und fing an, Lügen zu verbreiten, furchtbar dumme Lügen. Er war ständig in Panik, mißtraute allem und jedem. Und dann war da diese – diese heimliche Schadenfreude, eine Art schuldbewußte Genugtuung. Trotzdem weinte er jede Nacht; zusammengerollt wie ein Baby weinte er sich in den Schlaf. Das durfte nicht so weitergehen!«
    Rathbone brach seine eigenen Regeln, streckte die Arme aus, umfaßte ihre mageren Schultern und hielt sie sanft fest.
    »Nein, natürlich nicht! Und es darf auch jetzt nicht so sein! Wenn die Wahrheit nicht ans Licht kommt und diesem Mißbrauch nicht Einhalt geboten wird, werden sein Großvater und der andere Mann dort weitermachen, wo sein Vater aufgehört hat – und dann war alles umsonst.« Ohne daß es ihm bewußt war, verstärkte sich der Druck seiner Finger. »Wir glauben zu wissen, wer dieser andere ist. Ich versichere Ihnen, er hat nicht weniger Gelegenheit, als der General sie hatte: jeden Tag, jede Nacht – er kann es beliebig fortsetzen.«
    Alexandra begann lautlos vor sich hin zu weinen. Kein Schluchzen, kein Schniefen, nichts; es waren die stummen Tränen völliger Hoffnungslosigkeit. Rathbone hielt sie nach wie vor fest und beugte sich ein wenig vor, bis sich sein Kopf dicht neben ihrem befand. Er roch den schwachen Duft ihrer mit Gefängnisseife gewaschenen Haare, spürte die Wärme ihrer Haut.
    »Thaddeus wurde als Kind von seinem Vater mißbraucht«, wiederholte er erbarmungslos, weil es sich nicht umgehen ließ.
    »Seine Schwester wußte Bescheid. Sie hatte es ein einziges Mal heimlich mitangesehen und bemerkte den gleichen Ausdruck widerstreitender Gefühle in Valentine Furnivals Augen. Deshalb war sie am Abend der Dinnerparty so durcheinander. Sie wird es beschwören.«
    Alexandra schwieg, doch er spürte, wie sie vor Überraschung erstarrte; das Weinen hörte auf. Sie war jetzt absolut still.
    »Und Miss Buchan wußte ebenfalls über den General und seinen Vater Bescheid. Wie über Cassian auch.«
    Alexandra atmete stoßweise ein, das Gesicht nach wie vor in den Händen vergraben.
    »Sie wird nicht aussagen«, sagte sie schließlich mit einem gedehnten Schniefen. »Sie kann nicht. Man wird sie aus dem Haus jagen, wenn sie es tut, und sie kann nirgendwo anders hin. Sie dürfen sie nicht danach fragen. Sie wird gezwungenermaßen alles abstreiten, und dann stehen wir noch schlechter da.«
    Rathbone lächelte finster. »Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Ich stelle niemals Fragen, ohne die Antwort vorher genau zu kennen – oder besser gesagt, ohne zu wissen, was der Zeuge sagen wird, ob es nun der Wahrheit entspricht oder nicht.«
    »Sie können unmöglich von ihr erwarten, daß sie freiwillig ins Verderben rennt.«
    »Es liegt nicht bei Ihnen, wofür sie sich entscheidet.«
    »Nein! Sie dürfen das nicht tun!« beharrte Alexandra, rückte von ihm ab und schaute ihm direkt in die Augen. »Sie wird daran zugrunde gehen.«
    »Und was wird mit Cassian geschehen? Von Ihnen ganz zu schweigen?«
    Sie gab keine Antwort.
    »Cassian wird zu einem Mann heranwachsen, der dem Vorbild seines Vaters nacheifert«, versetzte er grausam. Diese Vorstellung war vermutlich das einzige, was sie wirklich nicht ertragen konnte ungeachtet Miss Buchans Schicksal. »Wollen Sie das zulassen? Dieselbe Scham, dieselbe Schuld, das ganze Drama noch einmal von vorn? Wieder ein todunglückliches, gedemütigtes Kind, noch eine Mutter, die so leiden muß wie Sie?«
    »Ich habe keine Kraft mehr zum Streiten«, sagte Alexandra derart leise, daß er sie kaum verstand. Sie saß wieder völlig zusammengekauert da, als ob der Schmerz tief in ihrer Körpermitte sitzen würde und sie sich auf

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