Eine Spur von Verrat
hören, Mrs. Sobell!«
»Ich…« Edith schluckte, hob trotzig das Kinn und riß ihren Blick von den Plätzen ihrer Mutter und ihres Vaters los, die kerzengerade auf der vordersten Bank auf der Galerie saßen. Für den Bruchteil einer Sekunde begegneten ihre Augen Alexandras.
»Ich nahm Kontakt zu einer guten Freundin auf, eine gewisse Miss Hester Latterly, und bat sie, mir bei der Suche nach einem geeigneten Strafverteidiger für Alexandra – Mrs. Carlyon – zu helfen.«
»Tatsächlich?« Rathbone wölbte in gespielter Überraschung die Brauen, obgleich beinahe jedem im Saal klar sein mußte, wie sorgfältig er dies vorausgeplant hatte. »Warum? Sie wurde immerhin des Mordes an Ihrem Bruder beschuldigt, diesem Bild von einem Ehrenmann.«
»Ich – ich hielt sie zunächst für unschuldig.« Ediths Stimme zitterte ein wenig, doch sie bekam sie sofort wieder unter Kontrolle. »Als dann zweifelsfrei für mich feststand, daß sie… daß sie die Tat begangen hatte… Nun, ich dachte immer noch, es müßte einen beseren Grund geben als den, den sie genannt hatte.«
Lovat-Smith sprang abermals auf.
»Euer Ehren! Ich hoffe, Mr. Rathbone wird der Zeugin keine persönlichen Mutmaßungen abringen? Ihre Loyalität der Schwägerin gegenüber ist ja sehr rührend, beweist jedoch lediglich ihre eigens gütige und – verzeihen Sie mir – recht naive Natur.«
»Mein werter Herr Kollege zieht voreilige Schlüsse, wofür er, fürchte ich, ein gewisses Faible hat«, versetzte Rathbone mit dem winzigsten aller Lächeln. »Ich habe nicht im mindesten die Absicht, Mrs. Sobell zu irgendwelchen Mutmaßungen zu verleiten, ich möchte lediglich einen Grundstock für ihre nachfolgenden Handlungen legen, damit das Gericht versteht, was sie getan hat, und warum es geschah.«
»Fahren Sie fort, Mr. Rathbone«, forderte der Richter ihn auf.
»Danke, Euer Ehren. Haben Sie seit dem Tod seines Vaters viel Zeit mit Ihrem Neffen, Cassian Carlyon, verbracht, Mrs. Sobell?«
»Selbstverständlich. Er lebt in unserem Haus.«
»Wie hat er den Tod seines Vaters aufgenommen?«
»Irrelevant!« fuhr Lovat-Smith dazwischen. »In welchem Bezug könnte der Kummer eines Kindes zu Schuld oder Unschuld der Angeklagten stehen? Wir dürfen bei Mord kein Auge zudrücken, nur weil ein Kind zur Waise wird, wenn die schuldige Person gehängt wird – so traurig das ist. Und natürlich tut er uns leid…«
»Auf Ihr Mitleid kann er verzichten, Mr. Lovat-Smith«, fuhr Rathbone ihn an. »Was er braucht, ist, daß Sie endlich den Mund halten, damit ich die Wahrheit ans Licht bringen kann.«
»Mr. Rathbone«, sagte der Richter scharf. »Wir haben zweifellos Verständnis für Ihre mißliche Lage und Ihre Frustration, aber Ihre Ausdrucksweise ist nicht statthaft! Nichtsdestotrotz, Mr. Lovat-Smith, ist der Rat nicht unbedingt schlecht, und Sie werden ihn bitte befolgen, bis Sie mit einem Einspruch aufwarten können, der Substanz besitzt. Wenn Sie weiterhin so häufig unterbrechen, haben wir bis Michaeli noch kein Urteil gefällt.«
Lovat-Smith ließ sich mit breitem Grinsen nieder.
Rathbone verbeugte sich leicht und wandte sich wieder zu Edith um.
»Ich denke, Sie dürfen nun fortfahren, Mrs. Sobell. Fiel Ihnen an Cassians Benehmen etwas auf?« Edith runzelte nachdenklich die Stirn.
»Es war nicht leicht nachzuvollziehen. Er trauerte zwar um seinen Vater, aber er kam mir dabei so – so erwachsen vor. Er weinte kein einziges Mal und wirkte unglaublich gefaßt, beinahe erleichtert.«
Lovat-Smith stand auf und mußte sich auf eine Handbewegung des Richters hin sogleich wieder setzen. Dieser wandte sich zum Zeugenstand um.
»Würden Sie uns bitte erklären, warum Sie ausgerechnet das Wort erleichtert gewählt haben, Mrs. Sobell? Geben Sie dabei bitte keinerlei Schlußfolgerungen ab, nennen Sie uns lediglich die Fakten, auf denen Ihre Beobachtung beruht. Nicht wie er wirkte, sondern was er tat oder sagte. Verstehen Sie den Unterschied?«
»Ja, Euer Ehren. Ich bitte um Entschuldigung.« Erneut verrieten das Stocken ihrer Stimme und die Art und Weise, wie sie das Geländer umklammerte, wie nervös Edith im Grunde war. »Ich sah ihn gelegentlich durchs Fenster oder von der Türschwelle aus, wenn er allein war und sich unbeobachtet glaubte. Er schien sich recht wohl zu fühlen – ich meine, so saß er zum Beispiel einmal lächelnd an seinem Tisch. Ich dachte, er wäre vielleicht einsam, und fragte ihn danach, aber er meinte, es würde ihm gefallen, allein zu
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