Eine Spur von Verrat
sein. Manchmal suchte er die Nähe meines Vaters – seines Großvaters…«
»Colonel Carlyon?« warf Rathbone ein.
»Richtig. Dann schien er ihm wieder bewußt aus dem Weg zu gehen. Vor meiner Mutter hatte er Angst.« Wie gegen ihren Willen spähte sie kurz in Felicias Richtung, konzentrierte sich aber gleich wieder auf Rathbone. »Das hat er mir selbst gesagt. Und über seine eigene Mutter hat er sich schrecklich aufgeregt. Sein Vater hätte ihm erzählt, sie hätte ihn nicht lieb, hat er mir anvertraut.«
Alexandra auf der Anklagebank schloß die Augen; sie schwankte wie unter körperlichen Schmerzen. Aller Selbstbeherrschung zum Trotz entfuhr ihr ein Keuchen.
»Hörensagen!« verkündete Lovat-Smith triumphierend, während er sich erhob. »Euer Ehren…«
»Das ist unzulässig«, entschuldigte sich der Richter bei Edith.
»Ich denke, Ihre Aussage hat sehr gut verdeutlicht, daß sich das Kind in einem Zustand erheblicher Verwirrung befand. Ist es das, was Sie veranschaulichen wollten, Mr. Rathbone?«
»Mehr als das, Euer Ehren, die Ursache seiner Verwirrung und daß er enge, ambivalente Beziehungen zu anderen aufgebaut hat.«
Lovat-Smith ächzte vernehmlich und streckte beide Hände in die Luft.
»Dann sollten Sie besser fortfahren und es tun, Mr. Rathbone«, empfahl ihm der Richter mit einem verkniffenen Lächeln. »Falls Sie dazu in der Lage sind. Sie haben uns bislang nicht klarmachen können, welche Bedeutung das für den Fall hat, und ich rate Ihnen, es innerhalb kürzester Zeit nachzuholen.«
»Ich verspreche Ihnen, daß es aus den weiteren Zeugenaussagen hervorgehen wird, Euer Ehren«, erwiderte Rathbone in nach wie vor gezielt unbeschwertem Tonfall. Für den Augenblick ließ er es erst einmal gut sein; er wußte, die Geschworenen hatten es im Kopf, und das war momentan alles, was zählte. Später konnte er darauf aufbauen. Er wandte sich wieder an Edith.
»Mrs. Sobell, wurden Sie in jüngster Zeit Zeugin einer hitzigen Auseinandersetzung zwischen Miss Buchan, einem älteren Mitglied Ihres Hauspersonals, und Ihrer Köchin Mrs. Emery?«
Ein leiser Anflug von Belustigung glitt über Ediths Züge und ließ ihre Mundwinkel ganz kurz nach oben wandern.
»So einiger. Mehr als ich zählen kann, offen gesagt«, gab sie freimütig zu. »Die Köchin und Miss Buchan stehen schon seit Jahren auf Kriegsfuß.«
»Sehr richtig. Aber der Streit, an den ich denke, ereignete sich innerhalb der letzten drei Wochen auf der Hintertreppe in Carlyon House. Sie wurden herbeizitiert, um die Gemüter zu besänftigen.«
»Ja, das stimmt. Cassian kam, um mich zu holen, weil er sich fürchtete. Die Köchin hatte ein Messer. Ich bin sicher, sie wollte nichts anderes, als sich ein bißchen in Szene setzen, aber das konnte er natürlich nicht wissen.«
»Worum ging es bei diesem Streit, Mrs. Sobell?«
Aus Lovat-Smiths Ecke ertönte ein unüberhörbares Stöhnen. Rathbone kümmerte sich nicht darum.
»Worum?« Edith blickte ein wenig verwirrt. Er hatte ihr nicht gesagt, daß er die Angelegenheit weiterverfolgen würde. Die Geschworenen sollten ihre offenkundige Ahnungslosigkeit sehen. Der Ausgang dieses Falls war ebenso abhängig von Fakten wie von Emotionen.
»Ja. Was war der Grund für die Meinungsverschiedenheit?« Noch ein Stöhnen, diesmal lauter. »Ich muß doch sehr bitten, Euer Ehren«, protestierte Lovat-Smith.
Rathbone schaute den Richter an. »Mein verehrter Herr Kollege scheint in Not geraten zu sein«, erklärte er salbungsvoll.
Eine Woge lauten, nervösen Gelächters fuhr durch den Saal wie das Rauschen von Sturmböen im Korn, kurz bevor der erste Donnerschlag fällt.
»Der Fall«, sagte Lovat-Smith fast in Ruflautstärke. »Fahren Sie endlich fort mit dem Fall, Mann!«
»Dann müssen Sie Ihre Seelenquellen aber auch erfolgreicher für sich behalten, alter Knabe«, gab Rathbone um nichts leiser zurück, »und mich nicht daran hindern.« Er wirbelte herum.
»Mrs. Sobell, die Frage lautete – wenn ich Sie erinnern darf –, was der Grund war für die Auseinandersetzung zwischen der Köchin und Miss Buchan. Können Sie mir das sagen?«
»Ja, natürlich – wenn Sie darauf bestehen… Obwohl ich nicht begreife, was…«
»So geht es uns allen«, mischte Lovat-Smith sich schon wieder ein.
»Mr. Lovat-Smith!« rief der Richter ihn scharf zur Ordnung.
»Beantworten Sie die Frage, Mrs. Sobell. Falls es sich als unerheblich erweist, werde ich Mr. Rathbones Abschweifungen schon Einhalt
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