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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Carlyon vollzogen worden ist, als er ein Kind war? Und bitte keinerlei Spekulationen, Miss Buchan, wie gut begründet sie Ihrer Ansicht nach auch sein mögen.« Er blickte abwartend zu ihr hoch.
    »Ich gehöre zum Hauspersonal, Mr. Lovat-Smith«, entgegnete sie würdevoll. »Wir haben eine sehr sonderbare Position: nicht direkt Mensch, nicht direkt Möbelstück. Wir nehmen oft an den ungewöhnlichsten Szenen teil, weil man uns einfach ignoriert. Es macht den Leuten nichts aus, wenn wir Dinge hören oder sehen, die ihren Freunden um jeden Preis verborgen bleiben müssen – sonst wären sie zu Tode gedemütigt.«
    Einer der Geschworenen blickte betroffen drein und fing schlagartig an zu grübeln.
    »Es ergab sich eines Tages, daß ich unerwartet ins Kinderzimmer zurückkam, weil ich etwas holen wollte«, erzählte Miss Buchan weiter. »Colonel Carlyon hatte versäumt, die Tür abzuschließen, und so sah ich ihn mitten im Akt mit seinem Sohn. Er merkte es nicht. Ich war vor Entsetzen wie gelähmt – obwohl ich das nicht hätte sein sollen. Ich wußte längst, daß etwas ausgesprochen Merkwürdiges vorging, aber ich wußte nicht was – bis zu diesem Tag. Ich blieb mehrere Sekunden wie angewurzelt auf der Schwelle stehen und verschwand dann so lautlos, wie ich gekommen war. Meine Erinnerung daran ist sehr real, Sir.«
    »Sie wurden Zeugin dieses brutalen Akts und unternahmen nichts?« Lovat–Smiths Stimme triefte vor Unglauben. »Das fällt mir schwer zu glauben, Miss Buchan. Galt im Rahmen Ihrer Aufgabe Ihre erste Pflicht nicht dem Wohl des Kindes, Thaddeus Carlyon?«
    Sie ließ sich nicht beirren.
    »Ich konnte, wie gesagt, nicht das geringste tun.«
    »Noch nicht einmal seine Mutter in Kenntnis setzen?« Er wies mit dem Arm auf die Galerie, wo Felicia saß wie in Stein gemeißelt. »Wäre sie nicht entsetzt gewesen? Hätte sie ihr Kind nicht beschützt? Sie scheinen stillschweigend von uns zu erwarten, Ihnen abzunehmen, daß Alexandra Carlyon« – er deutete mit einer weiteren theatralischen Geste in deren Richtung – »eine Generation später von derselben Erkenntnis geplagt ihren Ehemann lieber ermordete, als es weitergehen zu lassen! Und dennoch behaupten Sie, Mrs. Felicia Carlyon hätte nichts dagegen unternommen?«
    Miss Buchan schwieg.
    »Sie zögern«, stellte Lovat–Smith provokativ und um einiges lauter fest. »Warum, Miss Buchan? Gehen Ihnen plötzlich die Antworten aus? Fallen sie nicht mehr so leicht?«
    Doch Miss Buchan blieb stark. Sie hatte bereits alles riskiert und, ganz ohne Zweifel, nicht weniger verloren. Ihr Einsatz war verspielt, jetzt galt es nur noch, die Selbstachtung zu bewahren.
    »Sie sind zu oberflächlich, junger Mann«, entgegnete sie mit der unsäglichen Autorität einer guten Kinderfrau. »Frauen können genauso unendlich verschieden voneinander sein wie Männer. Das gleiche gilt für ihre Loyalität und Wertvorstellungen wie für die Epochen und Umstände, in und unter denen sie leben. Was könnte eine Frau in einer solchen Situation schon tun? Wer würde ihr glauben, wenn sie einen allseits beliebten Mann eines derartigen Verbrechens beschuldigt? Die Leute denken so etwas nicht gern von ihren Idolen, und Idole waren sie beide, sowohl Randolf als auch Thaddeus, jeder auf seine Weise. Falls man ihr nicht geglaubt hätte, hätte die feine Gesellschaft die Betreffende als verabscheuungswürdiges Weib ans Kreuz genagelt, falls doch als käuflich und indiskret. Sie wäre sich natürlich darüber im klaren gewesen und hätte versucht, das zu behalten, was sie besaß. Miss Alexandra beschloß, ihr Kind zu retten oder es wenigstens zu versuchen. Bleibt abzuwarten, ob sie sich umsonst geopfert hat oder nicht.«
    Lovat-Smith öffnete den Mund, um dies anzuzweifeln, sie von neuem zu attackieren, warf jedoch einen Blick auf die Geschworenen und besann sich eines Besseren.
    »Sie sind eine bemerkenswerte Frau, Miss Buchan«, sagte er mit einer winzigen Verbeugung. »Bleibt abzuwarten, ob Ihre extravagante Sicht der Dinge durch weitere Fakten erhärtet wird, aber zweifelsohne sind Sie davon überzeugt, die Wahrheit zu sprechen. Ich habe keine Fragen mehr an Sie.«
    Unter allgemeinem Aufruhr vertagte sich das Gericht über die Mittagszeit.
    Die erste Zeugin nach der Verhandlungspause war Damaris Erskine. Auch sie war blaß und hatte dunkle Ringe unter den Augen, so als hätte sie sich in den Schlaf geweint, aber nur wenig Erholung gefunden. Ihr Blick schweifte unentwegt zu Peverell ab, der

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