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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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die Anzeichen. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck: die verschlagene Genugtuung, die mit Frohlocken gemischte Angst, das Kokettieren und die Scham; den übergangslosen Umschwung von perfekter Selbstbeherrschung zu grenzenlosem Entsetzen bei der Vorstellung, die Liebe der Mutter zu verlieren, falls sie davon erfährt; der Haß darauf, ein Geheimnis wahren zu müssen, und der Stolz, eins zu haben. Und dann das ewige Weinen in der Nacht, die Unfähigkeit, mit irgend jemandem darüber sprechen zu können… diese totale, alles vernichtende Einsamkeit…«
    Alexandra hatte den Kopf wieder gehoben. Ihr Gesicht war aschgrau, ihr Körper vor Schmerz wie gelähmt.
    Auch die Geschworenen saßen bleich, erschüttert und reglos da.
    Der Richter warf Lovat-Smith einen fragenden Blick zu, doch der nahm ausnahmsweise einmal keinen Gebrauch von seinem Recht, gegen ihren überaus anschaulichen und durch keinerlei Beweise gestützten Bericht Einspruch zu erheben. Seine scharfen Züge schienen unter dem Schock wie aufgeweicht.
    »Miss Buchan«, fuhr Rathbone freundlich fort, »sie scheinen eine recht lebhafte Vorstellung davon zu haben, wie so etwas sein muß. Wie kommt das?«
    »Weil ich es schon von Thaddeus – General Carlyon – her kannte. Auch er wurde als Kind von seinem Vater sexuell mißbraucht.«
    Diesmal war die Empörung im Gerichtssaal so anhaltend, das Protestgeschrei derart laut, daß sie gezwungen war, eine Pause einzulegen.
    Oben auf der Galerie stolperten die Zeitungsschergen über Beine und verfingen sich in den weiten Röcken der Zuschauerinnen, als sie sich hinauszuquetschen versuchten, um die unglaublichen Neuigkeiten in Windeseile zu den jeweiligen Pressestellen zu befördern.
    »Ruhe!« befahl der Richter, wobei er heftig mit seinem Hämmerchen auf das Pult eindrosch. »Ruhe! Oder ich lasse den Saal räumen!«
    Nach und nach kehrte Ordnung ein. Die Geschworenen hatten sich gesammelt umgedreht, um Randolf ins Visier zu nehmen. Nun wandten sie sich wieder Miss Buchan zu.
    »Das ist eine sehr gravierende Anschuldigung, Miss Buchan«, sagte Rathbone ruhig. »Sind Sie absolut sicher, daß Ihre Behauptung der Wahrheit entspricht?«
    »Natürlich bin ich das!« Zum ersten und einzigen Mal enthielt ihr Ton eine Spur Bitterkeit. »Ich arbeite seit meinem vierundzwanzigsten Lebensjahr im Haus der Carlyons, als man mich einstellte, um Master Thaddeus zu betreuen. Das liegt über vierzig Jahre zurück. Ich kann jetzt nirgends mehr hin – und sie werden kaum bereit sein, mir nach all dem in meinem Alter noch ein Dach über dem Kopf zu geben. Denkt vielleicht irgend jemand, ich hätte es mir nicht genau überlegt?«
    Rathbone warf nur einen ganz flüchtigen Blick auf die Mienen der Geschworenen und entdeckte dennoch die erwarteten widerstreitenden Gefühle: Grauen, Abscheu, Wut, Anteilnahme und komplette Verwirrung. Sie war eine Frau, welche die Wahl hatte zwischen dem Verrat an ihren Brötchengebern und allen für sie damit verbundenen, nicht wiedergutzumachenden Konsequenzen oder dem Verrat an ihrem Gewissen und an einem Kind, das keinen anderen Fürsprecher besaß. Die Geschworenen zählten zur dienstbotenhaltenden Klasse, sonst wären sie keine gewesen. Ein paar von ihnen konnten sich sogar eine Gouvernante leisten. Sie waren hin und her gerissen zwischen Loyalität, gesellschaftlichem Ehrgeiz und herzzerreißendem Mitleid.
    »Ich bin mir dessen bewußt, Miss Buchan«, versicherte Rathbone mit dem Schatten eines Lächelns. »Ich will lediglich dafür sorgen, daß es dem Gericht ebenso ergeht. Fahren Sie bitte fort. Sie waren also über die widernatürliche Unzucht, zu der Colonel Randolf Carlyon seinen Sohn Thaddeus nötigte, im Bilde. Und Sie entdeckten die gleichen Anzeichen für sexuellen Mißbrauch bei dem Kind Cassian Carlyon, woraufhin Sie Angst um ihn bekamen. Ist das korrekt?«
    »Jawohl.«
    »Haben Sie auch gewußt, von wem er mißbraucht wurde? Bemühen Sie sich bitte um Präzision, Miss Buchan. Ich meine wirklich wissen, mit Spekulationen oder Schlußfolgerungen ist es nicht getan.«
    »Dessen bin ich mir bewußt, Sir«, entgegnete sie steif. »Nein, ich wußte es nicht. Da er aber, wie das so üblich ist, bei seinen Eltern wohnte und nicht bei Randolf und Felicia Carlyon, nahm ich an, daß es sein Vater Thaddeus sein müßte. Ein Vater, der seinem Sohn das gleiche zufügt, was ihm als Kind selbst angetan worden ist. Außerdem hielt ich es für den einzig plausiblen Grund, warum Alexandra Carlyon ihn

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