Eine Spur von Verrat
recht«, lenkte Lovat-Smith elegant ein. Er verfügte über ausreichendes Feingefühl, um zu merken, wann er einen Fehler gemacht hatte, und diesen sogleich auszubügeln. »Es ändert nichts an den Fakten, aber es darf selbstverständlich nicht außer acht gelassen werden. Das war alles, Mrs. Sobell, ich danke Ihnen.«
»Mr. Rathbone?« erkundigte sich der Richter.
»Keine weiteren Fragen, Euer Ehren. Danke.«
»Sie dürfen gehen, Mrs. Sobell.«
Rathbone stand im Zentrum der winzigkleinen freien Fläche vor dem Zeugenstand.
»Miss Catriona Buchan, bitte.«
Miss Buchan steuerte kreidebleich auf den Zeugenstand zu. Ihr Gesicht wirkte ausgemergelter denn je, ihr Rücken war steif und der Blick starr geradeaus gerichtet, als wäre sie eine französische Adlige, die sich ihren Weg durch den Pulk zeternder, alter Weiber am Fuße der Guillotine bahnt. Sie schwor, die Wahrheit zu sagen, und sah Rathbone dabei an, als stünde sie vor ihrem Scharfrichter.
Rathbone stellte fest, daß er sie bewunderte wie niemanden vor ihr, dem er je über diese kurze Distanz ins Auge geblickt hatte.
»Ich bin mir bewußt, was Sie Ihr heutiges Erscheinen kosten wird, Miss Buchan, und werde Ihnen Ihre Opferbereitschaft gewiß niemals vergessen. Dennoch verstehen Sie hoffentlich, daß mir im Zuge der Gerechtigkeit keine andere Wahl blieb?«
»Natürlich«, bestätigte sie mit fester Stimme, die trotz ihrer seelischen Anspannung nicht im mindesten schwankte, sondern lediglich ein wenig gestutzt, etwas höher klang als sonst. »Wenn ich das nicht begriffen hätte, würde ich kaum hier sitzen.«
»Sehr schön. Erinnern Sie sich noch an Ihren Streit mit der Köchin vor etwa drei Wochen?«
»Und ob. Als Köchin taugt sie ja einigermaßen, aber ansonsten ist sie eine schrecklich dumme Person.«
»Inwiefern dumm, Miss Buchan?«
»Sie glaubt allen Ernstes, daß jedem Übel der Welt mit ordentlichen, regelmäßigen Mahlzeiten beizukommen ist. So nach dem Motto: Iß nur immer richtig, dann regelt sich der Rest wie von selbst.«
»Eine recht kurzsichtige Einstellung. Weswegen haben Sie sich bei dieser speziellen Gelegenheit gestritten, Miss Buchan?« Ihr Kinn wanderte ein wenig nach oben.
»Wegen Master Cassian. Sie meinte, ich würde das Kind völlig durcheinanderbringen, wenn ich ihm sage, seine Mutter wäre keine böse Frau und würde ihn nach wie vor von ganzem Herzen lieben.«
Alexandra saß derart still auf der Anklagebank, daß sie nicht einmal zu atmen schien. Ihre Augen ruhten nahezu unbeweglich auf Miss Buchans Gesicht.
»Das war alles?«
Miss Buchans flache Brust hob und senkte sich unter einem tiefen Atemzug. »Nein. Sie sagte außerdem, ich würde dem Jungen auf Schritt und Tritt folgen und ihn nicht eine Sekunde allein lassen.«
»Sind Sie ihm auf Schritt und Tritt gefolgt, Miss Buchan?« Sie zögerte nur eine Sekunde. »Ja.«
»Warum?« erkundigte Rathbone sich bewußt ausdruckslos, als wäre die Frage relativ nebensächlich.
»Um nach Kräften zu verhindern, daß man ihm weiterhin Schaden zufügt.«
»Schaden, Miss Buchan? Wurde er schlecht behandelt? Auf welche Weise?«
»Ich glaube, der genaue Ausdruck dafür ist widernatürliche Unzucht, Mr. Rathbone.«
Ein kollektives Keuchen erschütterte den Saal, als Hunderte von Mündern nach Luft schnappten.
Alexandra bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
Die Geschworenen versteinerten auf ihren Plätzen, die Augen entsetzt aufgerissen, die Gesichter kreidebleich.
Oben, in der ersten Reihe auf der Galerie, erstarrte Randolf Carlyon zur Salzsäule. Felicias verschleierter Kopf zuckte ruckartig hoch, während ihre Fingerknöchel auf dem Geländer vor ihr weiß hervortraten. Edith, die wieder neben den beiden saß, sah aus, als hätte man sie geschlagen.
Selbst der Richter wurde ganz steif und wandte sich nach Alexandra um. Lovat-Smith stierte Rathbone schlicht fassungslos an.
Der ließ mehrere Sekunden verstreichen, ehe er das Wort von neuem ergriff.
»Irgendein Hausbewohner nötigte das Kind zu widernatürlicher Unzucht?« fragte er sehr leise, doch dank der eigentümlichen Eindringlichkeit seiner Stimme sowie seiner exzellenten Aussprache war jedes Wort selbst im hintersten Winkel der Galerie deutlich zu verstehen.
»Jawohl«, bestätigte Miss Buchan, den Blick fest auf ihn geheftet.
»Woher wollen Sie das wissen, Miss Buchan? Haben Sie es mit eigenen Augen gesehen?«
»Nein, diesmal nicht – aber früher, als Thaddeus selbst noch ein kleiner Junge war. Ich kannte
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