Eine Spur von Verrat
ihn ziemlich steif. Sie machte keinerlei Zugeständnisse an die üblichen Höflichkeitsfloskeln oder einleitenden Banalitäten, wie es die meisten Leute taten, ehe sie zum Kern der Sache vordrangen.
»Haben Sie schon mit dem Fall Carlyon angefangen? Es wird sicher nicht einfach. Laut Edith Sobells Einschätzung besteht nur wenig Aussicht auf einen glücklichen Ausgang. Aber die falsche Person an den Galgen zu bringen wäre wesentlich schlimmer – worin wir wohl einer Meinung sind, nehme ich an?« Sie warf ihm einen durchdringenden, sehr direkten Blick zu.
Ein Kommentar war überflüssig; die Erinnerung stand rasiermesserscharf zwischen ihnen. Sie tat weh, enthielt jedoch keinerlei Schuldzuweisung; es waren lediglich geteilte Gefühle.
»Ich habe Mrs. Carlyon selbst noch nicht gesprochen.« Er legte ein flottes Tempo hin, doch Hester konnte problemlos mithalten. »Morgen früh gehe ich zu ihr. Rathbone hat mir eine Besuchserlaubnis verschafft. Kennen Sie sie?«
»Nein – ich kenne nur die Familie des Generals, und das nicht sonderlich gut.«
»Was halten Sie von der Sache?«
»Das ist eine sehr umfassende Frage.« Sie zögerte, da sie sich ihres Urteils selbst nicht sicher war.
Er musterte sie mit unverhohlenem Spott.
»Warum plötzlich so vornehm, Miss Latterly? Sie haben doch sonst nie mit Ihrer Meinung hinter dem Berg gehalten.« Er grinste sarkastisch. »Aber da hatte man Sie auch nicht danach gefragt. Die Tatsache, daß ich sie hören will, scheint Ihre Zunge zu lahmen.«
»Ich dachte, Sie sind an einer wohlüberlegten Meinung interessiert«, gab sie barsch zurück. »Nicht an irgendwelchen spontanen, unreflektierten Eingebungen.«
»Da Ihre früheren Meinungsäußerungen folglich zu der spontanen und unreflektierten Kategorie gehört haben müssen, wäre mir eine wohlüberlegte ebenfalls lieber«, versicherte Monk mit verkniffenem Lächeln.
Sie waren am Bordstein angelangt und blieben kurz stehen, um eine Kutsche vorbeizulassen; die Geschirre der Pferde funkelten in der Sonne, die Hufe stoben kraftvoll voran. Dann überquerten sie die Margaret Street in Richtung Market Place. In der Ferne war die betriebsame Oxford Street mit ihrem Gewirr an Fortbewegungsmitteln jedweder Art, hektischen Passanten, Müßiggängern und den vielfältigsten Straßenhändlern bereits deutlich zu erkennen.
»Mrs. Randolf Carlyon scheint mir die stärkste Persönlichkeit in der Familie zu sein«, sagte Hester, als sie die andere Straßenseite erreicht hatten. »Eine meines Erachtens unglaublich energische Person, etwa zehn Jahre jünger und wahrscheinlich in besserer gesundheitlicher Verfassung als ihr Mann…«
»Sie sind doch sonst nicht so diplomatisch«, fiel er ihr ins Wort. »Halten Sie den alten Carlyon für senil?«
»Ich – ich bin nicht sicher.«
Er warf ihr einen verwunderten Blick zu. »Normalerweise nehmen Sie nie ein Blatt vor den Mund. Früher sind Sie eher im Lager der übertrieben großen Ehrlichkeit herumgeirrt. Haben Sie plötzlich Ihr Taktgefühl entdeckt, Hester? Warum, um Himmels willen?«
»Ich bin nicht taktvoll«, fuhr sie ihn an. »Ich versuche nur präzise zu sein – das sind zwei völlig verschiedene Paar Stiefel.« Ihre Schritte wurden ein wenig länger. »Ich weiß einfach nicht genau, ob er nun senil ist oder nicht. Ich habe ihn nicht oft genug gesehen, um das beurteilen zu können. Bislang kann ich lediglich sagen, daß ihn seine Lebensgeister zwar zu verlassen scheinen, sie aber immer schon die stärkere Persönlichkeit von beiden gewesen ist.«
»Bravo«, lobte er sie mit leicht sarkastischem Unterton. »Und Mrs. Sobell, die ihre Schwester für unschuldig hält? Ist sie eine rosenwerfende Optimistin? Sie scheint die einzige zu sein, die glaubt, daß man trotz Mrs. Carlyons Geständnis mehr für sie tun kann als für ihr Seelenheil beten.«
»Nein, das ist sie nicht«, gab Hester mit einer guten Portion Schärfe zurück. »Sie ist eine klardenkende Witwe mit einem erstaunlich gut funktionierenden Verstand. Sie hält es für wesentlich wahrscheinlicher, daß Sabella Pole, seine Tochter, den General umgebracht hat.«
»Klingt recht plausibel«, räumte Monk ein. »Ich habe Sabella soeben kennengelernt. Sie ist extrem leicht erregbar, fast schon hysterisch.«
»Wirklich?« fragte Hester flugs und wandte sich gespannt zu ihm um. Ihre Neugier hatte den Unmut besiegt. »Wie beurteilen Sie sie? Könnte sie ihren Vater ermordet haben? Die Gelegenheit hätte sie laut Damaris Erskine
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