Eine Spur von Verrat
angeschlagenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er nichts erreicht. »Sie hat sich geweigert, Ihnen etwas zu verraten.« Für einen Moment fand sie keine weiteren Worte; die Enttäuschung war zu groß. Dann holte sie tief Luft und reckte ein wenig das Kinn. Ihr spontanes Mitgefühl für ihn verwandelte sich wieder in Besorgnis. »Sie muß einen wirklich triftigen Grund haben – einen, für den sie lieber stirbt, als ihn preiszugeben.« Ein Schauder überlief ihren Rücken, und ihr Gesicht verzog sich zu einer gequälten Grimasse. »Es muß etwas Furchtbares gewesen sein und ich werde das Gefühl nicht los, daß es jemand anderen betrifft.«
»Setzen Sie sich bitte erst einmal hin«, forderte er sie auf, während er auf den Lehnstuhl hinter seinem Schreibtisch zusteuerte.
Hester tat, wie ihr geheißen, und ließ sich auf einem kleineren Exemplar ihm gegenüber nieder. Verblüffend, mit welch sonderbarer Anmut sie sich bewegte, wenn sie sich ihrer selbst nicht bewußt war. Er lenkte seine Konzentration wieder auf den Fall.
»Oder etwas so Widerwärtiges, daß es ihre Situation nur verschlimmern würde«, fügte er nüchtern hinzu, verwünschte sich jedoch im selben Moment dafür. »Es tut mir leid«, sagte er hastig. »Aber Hester – wir müssen ehrlich sein.«
Sie schien überhaupt nicht zu merken, daß er sie beim Vornamen nannte. Als wäre es das Natürlichste auf der Welt.
»So wie die Dinge liegen, kann ich nichts für sie tun. Das muß ich auch Erskine sagen. Ihn in dem Glauben zu lassen, ich könnte mehr für sie herausholen als jeder blutige Anfänger, wäre mutwillige Täuschung.«
Falls sie ihn in Verdacht hatte, daß er um seinen guten Ruf bangte oder Angst vor dem Scheitern hatte, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Er schämte sich, daß ihm der Gedanke überhaupt in den Kopf gekommen war.
»Wir müssen es herausfinden!« sagte sie unsicher, wohl in der redlichen Absicht, sich selbst wie auch ihm neue Hoffnung einzuimpfen. »Wir haben noch Zeit, nicht wahr?«
»Bis zum Prozeß? Ja, ein paar Wochen. Aber was bringt uns das, und wo fangen wir an?«
»Ich weiß es nicht, aber Monk hat sicher eine Idee.« Sie ließ ihn nicht aus den Augen und registrierte, wie sich seine Miene bei diesem Namen umwölkte. Sie wünschte, sie wäre weniger plump vorgegangen. »Wir dürfen jetzt nicht aufgeben«, fuhr sie fort. Um sich gehenzulassen, war die Zeit jedenfalls zu knapp.
»Was es auch sein mag, wir müssen herausbekommen, ob sie jemanden schützt. Ja, ich weiß, sie hat’s getan – an den Beweisen läßt sich nicht rütteln. Aber warum? Warum war sie bereit zu töten, es zu gestehen und notfalls an den Galgen zu wandern? Es muß etwas – etwas Unerträgliches sein. Etwas so Grauenhaftes, daß sogar Gefängnis, Prozeß und der Strick besser sind!«
»Nicht unbedingt, meine Liebe«, sagte er sanft. »Manche Leute begehen die schrecklichsten Verbrechen aufgrund von Lappalien. Der Mensch hat schon wegen ein paar Schillingen getötet oder aus Wut über eine harmlose Beleidigung…«
»Nicht Alexandra Carlyon«, widersprach sie verstockt und lehnte sich zu ihm vor. »Sie kennen sie! Trauen Sie ihr das wirklich zu? Glauben Sie, sie würde alles – ihren Mann, ihre Familie, ihr Zuhause, ihre gesellschaftliche Stellung, sogar ihr Leben – für etwas Banales opfern?« Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. »Und welche Frau rauft sich schon die Haare wegen einer Beleidigung? Männer duellieren sich der Ehre wegen – Frauen nicht! Wir sind es gewöhnt, beleidigt zu werden; die beste Verteidigung ist, so zu tun, als hätte man es nicht bemerkt – dann muß man auch nicht darauf eingehen. Mit einer Schwiegermutter wie Felicia Carlyon dürfte Alexandra ohnehin genug Übung im Überhören von Beleidigungen haben, um jeder Lage Herrin zu werden. Sie ist doch keine Närrin, oder?«
»Nein.«
»Eine Trinkerin etwa?«
»Nein.«
»Dann müssen wir herausfinden, weshalb sie es getan hat! Auch wenn Sie das Schlimmste denken, was hat sie zu verlieren? Gibt es denn eine bessere Verwendung für ihr Geld, als den Versuch, ihr Leben damit zu retten?«
»Ich bezweifle, ob ich…«, begann er. Dann tauchte neben Hesters Gesicht unvermittelt Alexandra vor seinem geistigen Auge auf: diese frappierenden Augen, die ausdrucksvollen, intelligenten Züge, der sinnliche Mund, der verborgene Sinn für Humor. Er mußte die Wahrheit wissen; vorher würde er keine Ruhe finden.
»Ich werde es versuchen«, lenkte er
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