Eine Spur von Verrat
ihn an, ohne daß er es merkte. Von diesem schwachen roten Faden hing alles ab.
Und da erinnerte er sich plötzlich an zwei große, braungoldene Augen, doch der Rest des Gesichts war wie weggewischt. Es gab keine Lippen, keine Wangen, kein Kinn – nur diese goldenen Augen.
Er blieb so abrupt stehen, daß der Mann hinter ihm auf ihn prallte, eine säuerliche Entschuldigung ausstieß und weiterging. Blaue Augen. Er hatte keinerlei Schwierigkeiten, sich Alexandra Carlyons Gesicht vorzustellen, aber das war es nicht, was sein geistiges Auge gesehen hatte: einen breiten, sinnlichen und humorvollen Mund, eine kurze, gebogene Nase, hohe Wangenknochen und blaue, unglaublich blaue Augen. Und sie war auch nicht diejenige gewesen, die ihn um Hilfe angefleht hatte, es schien ihr sogar völlig gleichgültig zu sein, als halte sie seine Bemühungen von vornherein für fruchtlos.
Er hatte sie erst ein einziges Mal gesehen und arbeitete nur deshalb weiterhin an dem Fall, weil Oliver Rathbone ihn darum gebeten hatte. Alles, was er für sie empfand, war ein eher unspezifisches Mitgefühl, weil sie furchtbar in der Klemme steckte.
Wer war diese andere, die derart ungestüm von seinen Gedanken und Gefühlen Besitz ergriff, die ihn mit solcher Dringlichkeit und Angst vor dem Versagen erfüllte?
Sie mußte zu seiner Vergangenheit gehören, diesem Teil seines Lebens, der ihn nicht losließ, den er unbedingt ergründen wollte. Mit der Zeit nach dem Unfall hatte es ganz gewiß nichts zu tun. Und Imogen Latterly war es nicht, denn ihr Gesicht konnte er sich mühelos ins Gedächtnis rufen. Ihre Beziehung zu ihm war rein geschäftlicher Natur gewesen; sie hatte lediglich darauf vertraut, mit seiner Hilfe den Namen ihres Vaters reinwaschen zu können und auch das war ihm nicht gelungen.
War der Versuch, dieser anderen Frau zu helfen, ebenfalls gescheitert? Hatte man sie für einen Mord gehängt, den sie nicht begangen hatte? Oder doch?
Er setzte sich wieder in Bewegung und eilte weiter. Zumindest würde er sich bemühen, alles menschenmögliche für Alexandra Carlyon zu tun – ob nun mit oder ohne ihre Unterstützung. Und jemand, der eine solche Tat begangen hatte, mußte fürwahr ein starkes Motiv gehabt haben.
Geld schied offenbar aus. Sie hatte zweifellos gewußt, daß sie nach seinem Tod finanziell wesentlich schlechter gestellt sein würde als davor. Ihr Status war dann der einer Witwe, was mindestens ein Jahr Trauer bedeutete, aber gleich mehrere Jahre dunkle Kleidung, sittsames Verhalten und so gut wie keine gesellschaftlichen Aktivitäten. Abgesehen von diesen obligatorischen Trauerverpflichtungen würde sie nur äußerst selten zu Parties eingeladen werden. Witwen stellten eher ein Handikap dar, da sie keinen männlichen Begleiter hatten – es sei denn, sie waren wohlhabend und diskontfähig. Und das traf auf Alexandra weder zu, noch hatte sie darauf spekuliert.
Er mußte sich näher mit ihrem Leben und ihren Gewohnheiten beschäftigen. Damit soviel Brauchbares wie möglich dabei herauskam, wandte er sich am besten an diejenigen ihrer Bekannten, die am unvoreingenommensten waren und ein objektives Urteil abgeben würden. Vielleicht konnte Edith Sobell ihm dahingehend weiterhelfen. Schließlich war sie es gewesen, die sich, von Alexandras Unschuld überzeugt, beistandsuchend an Hester gewandt hatte.
Edith erwies sich in der Tat als ausgesprochen kooperativ, und nach einer Zwangspause am Sonntag suchte Monk im Lauf der nächsten beiden Tage diverse Freundinnen und Bekannte auf, die samt und sonders dieselbe Meinung vertraten. Alexandra war eine gute Freundin, hatte ein aufgeschlossenes, doch unaufdringliches Wesen und war humorvoll, aber niemals vulgär. Außer einem leichten Hang zur Spöttelei, einer etwas spitzen Zunge und einem Interesse an Themen, die für hochwohlgeborene Damen – sprich für Frauen allgemein – nicht ganz passend waren, schien sie kein einziges Laster zu haben. Sie war mehrmals beim Lesen politischer Zeitschriften ertappt worden, die sie dann sofort blitzschnell versteckt hatte. Mit ihrer Geduld gegenüber Leuten, die etwas langsamer dachten, war es nicht allzuweit her. Hatte sie das Gefühl, ausgefragt oder zu einer bestimmten Meinung genötigt zu werden, konnte sie zuweilen recht schroff reagieren. Sie liebte Erdbeeren und laute Blaskapellen über alles, mochte einsame Spaziergänge und unterhielt sich gern mit nicht standesgemäßen Fremdlingen.
Und ja – gelegentlich hatte man sie in einer
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