Eine Spur von Verrat
ich.«
»O ja«, bestätigte Hester aus tiefster Brust und setzte sich hin. Der erste Gang wurde serviert. Die Suppe war ausgezeichnet, doch Rathbone verkniff sich eine spitze Bemerkung; ungnädig wollte er ganz sicher nicht erscheinen. Als der Fisch aufgetragen wurde – dank der langen Wartezeit in etwas trockenem Zustand –, probierte er einen Bissen, begegnete Hesters Blick und enthielt sich erst recht jeglichen Kommentars.
»Ich habe gestern mit Monk gesprochen«, sagte er nach einer Weile. »Ich fürchte, wir haben keine großen Fortschritte gemacht.«
Obwohl sie geahnt hatte, daß die Neuigkeiten nicht gut sein würden, weil Rathbone so lange damit auf sich warten ließ, war Hester enttäuscht.
»Was lediglich bedeutet, daß wir das wahre Motiv immer noch nicht kennen«, gab sie hartnäckig zurück. »Wir werden intensiver nachforschen müssen.«
»Oder Alexandra zum Reden bringen«, fügte Oliver hinzu, während er sein Besteck auf den Teller legte und dem Diener mit einem Handzeichen zu verstehen gab, daß er abräumen konnte.
Das Gemüse war eine Spur zu gar, der kalte Lammrücken hingegen erstklassig, die Phalanx der dazugereichten Pickles und Chutneypasten lang, abwechslungsreich und ungewöhnlich.
»Sind Sie mit dem Fall vertraut, Mr. Rathbone?« wandte Hester sich an Henry, da sie ihn nicht aus der Unterhaltung ausschließen wollte.
»Oliver hat flüchtig davon erzählt«, erwiderte er, während er sich großzügig aus dem Schälchen mit dunklem Chutney bediente. »Was hoffen Sie zu finden?«
»Den wahren Grund, warum sie ihn ermordet hat. Daß sie es war, steht leider außer Frage.«
»Welchen Grund hat sie denn angegeben?«
»Eifersucht auf die Gastgeberin der Dinnerparty, auf der es passiert ist, aber das kann nicht sein. Sie behauptet, er hätte ein Verhältnis mit dieser Frau gehabt. Ein solches hat jedoch nie existiert, und wir wissen, daß sie darüber sehr wohl im Bilde war.«
»Und mit der Wahrheit will sie nicht herausrücken?«
»Nein.«
Er legte die Stirn in Falten, schnitt sich ein Stück Fleisch ab und strich reichlich Chutney und Kartoffelpüree darauf.
»Versuchen wir’s mal mit Logik«, sagte er nachdenklich.
»Hat sie den Mord geplant?«
»Das wissen wir nicht. Es gibt keinerlei Hinweise dafür.«
»Sie könnte die Tat also im Affekt begangen haben – ohne die möglichen Konsequenzen zu bedenken.«
»Aber sie ist nicht dumm«, protestierte Hester. »Sie muß gewußt haben, daß man sie hängen wird.«
»Falls man sie erwischt!« gab Henry zu bedenken. »Sie könnte doch von einer furchtbaren Wut gepackt worden sein und völlig unüberlegt gehandelt haben.« Hester runzelte die Stirn.
»Meine Liebe, es ist ein Irrglaube anzunehmen, der Mensch würde immer und ausschließlich von Vernunft regiert«, sagte er sanft. »Wir handeln aus den unterschiedlichsten Impulsen heraus, manchmal sogar gegen unsere eigenen Interessen – wie uns zweifellos klargeworden wäre, hätten wir nur einen Moment nachgedacht. Das tun wir aber oftmals nicht, lassen uns statt dessen von unseren Gefühlen leiten. Wenn wir Angst haben, laufen wir entweder davon, erstarren zur Salzsäule oder schlagen wild um uns – je nach Veranlagung und persönlichen Erfahrungen.«
Er schaute sie konzentriert an, ohne sich weiter um sein Essen zu kümmern. »Ich denke, die meisten Tragödien ereignen sich dann, wenn die Leute aus Zeitmangel die verschiedenen Handlungsweisen nicht gegeneinander abwägen und die Situation falsch einschätzen; wenn sie überstürzt handeln. Und dann ist es zu spät.« Abwesend schob er Oliver die Pickles hin.
»Jeder von uns steckt voll mit vorgefaßten Meinungen; wir beurteilen die Dinge subjektiv. Wir glauben, was wir glauben müssen, damit dieses ganze Gebäude von Ansichten nicht zusammenstürzt. Ein neuer Gedanke ist nach wie vor das gefährlichste auf der Welt. Ein neuer Gedanke stellt eine große Bedrohung dar, vor allem wenn er den Kern unseres Lebens betrifft und ohne jede Vorwarnung auftaucht. Das wirft uns aus der Bahn, versetzt uns in helle Panik, weil unser Weltbild und unser Selbstverständnis ins Wanken kommen könnten. Und dann erheben wir die Hand gegen denjenigen, der diese Explosion in uns ausgelöst hat – um es abzuwenden, notfalls auch mit Gewalt.«
»Vielleicht wissen wir nicht annähernd genug über Alexandra Carlyon«, meinte Hester grüblerisch, den Blick auf ihren Teller geheftet.
»Wir wissen jetzt wesentlich mehr als vor einer Woche«,
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