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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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und seine daraus resultierende Kursänderung. Doch wer diese Frau war, die ihn so gnadenlos verfolgte, wie sie aussah, warum ihm soviel an ihr lag und was mit ihr passiert war – da tappte er nach wie vor im dunkeln.

6
    Mit Major Tipladys begeisterter Zustimmung nahm Hester Oliver Rathbones Einladung zum Essen an. Ganz wie es sich gehörte, setzte sie sich in einen Hansom und ließ sich nach Primrose Hill zum Haus seines Vaters fahren, der sich als charmanter und vornehmer älterer Gentleman entpuppte.
    Fest entschlossen, nicht zu spät zu kommen, traf sie sogar noch vor Rathbone selbst ein, der von einer Gruppe Geschworener aufgehalten wurde, die sich viel länger als erwartet zur Beratung zurückgezogen hatten. Sie ließ sich an der ihr mitgeteilten Adresse absetzen und fand sich wenig später, nachdem sie von einem Diener eingelassen worden war, in einem kleinen Wohnzimmer wieder. Es ging auf einen Garten hinaus, in dem sich im Schatten der Bäume Osterglocken im Wind wiegten. Ein mächtiger, wildwuchernder Geißblattbusch verdeckte fast völlig das Tor, das zu einem winzigen, überwachsenen Obstgarten führte. Über die Mauer hinweg erspähte sie die Kronen der in voller Blüte stehenden Apfelbäume.
    Das Zimmer selbst war mit Büchern aller erdenklichen Formen und Größen vollgestopft, die offenbar nicht nach ästhetischen Gesichtspunkten, sondern themenbezogen geordnet waren. An den Wänden hingen mehrere Aquarelle. Eines davon stach ihr sofort ins Auge, weil es den Ehrenplatz über dem Kaminsims erhalten hatte. Es zeigte einen jungen Burschen in ledernem Wams und Schürze, der auf dem Sockel einer Säule saß. Bis auf das Dunkelrot seiner Mütze war das Gemälde ausschließlich in warmen Erdfarben gehalten, überwiegend in Ocker und Sepia, und es war unvollendet. Die untere Hälfte seines Körpers sowie ein kleiner Hund, den er zu streicheln im Begriff war, waren lediglich skizziert.
    »Gefällt es Ihnen?« fragte Henry Rathbone. Er war größer als sein Sohn, ausgesprochen schlank und hielt sich ein wenig krumm, als hätte er lange Jahre über Büchern verbracht. Sein Gesicht, das nur aus Nase und Kinnbacken zu bestehen schien, erinnerte an einen Adler, verriet jedoch eine Heiterkeit, eine Milde, die Hester auf Anhieb ihre Befangenheit nahm. Seine grauen Haare waren recht spärlich gesät, die Augen, aus denen er sie anschaute, kurzsichtig und blau.
    »Ja, sogar sehr«, gab sie wahrheitsgetreu zurück. »Je länger ich es ansehe, desto schöner finde ich’s.«
    »Es ist mein Lieblingsbild«, erklärte er zustimmend.
    »Vielleicht weil es unvollendet ist. Wäre es fertig, würde es vermutlich strenger, endgültiger wirken. So läßt es Raum für die Phantasie; man fühlt sich fast, als arbeite man mit dem Künstler zusammen.«
    Sie wußte haargenau, was er meinte, und mußte unwillkürlich schmunzeln.
    Dann gingen sie zu anderen Themen über. Hester fühlte sich in seiner Gesellschaft derart wohl, daß sie ihn schamlos ausfragte. Henry Rathbone war weit gereist und sprach fließend deutsch. Er schien dabei, ganz im Gegensatz zu ihr, nicht in erster Linie von den unterschiedlichen Landschaften fasziniert gewesen zu sein, sondern von allen möglichen seltsamen Leuten, die er in kleinen verstaubten Läden kennengelernt hatte, wo er liebend gern herumstöberte. Niemand konnte nach außen hin so unscheinbar sein, um nicht sein Interesse zu wecken; für ihn war jeder Mensch etwas Besonderes. Hester fiel kaum auf, daß Rathbone sich um fast eine Stunde verspätete. Als er schließlich in einer Lawine von Entschuldigungen hereingeschneit kam, registrierte sie amüsiert seine Bestürzung ob der befremdlichen Tatsache, daß ihn außer dem Koch, dessen Zeitplan völlig durcheinander geraten war, anscheinend niemand vermißt hatte.
    »Schon gut«, meinte Henry Rathbone unbekümmert, während er sich erhob. »Ist doch die ganze Aufregung nicht wert. Was geschehen ist, ist geschehen. Kommen Sie, Miss Latterly, gehen wir ins Eßzimmer. Lassen Sie uns nachsehen, was noch zu retten ist.«
    »Ihr hättet ohne mich anfangen sollen«, sagte Oliver mit leicht verärgerter Miene. »Dann wärt ihr wenigstens in den Genuß voller Güte gekommen.«
    »Kein Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben«, erwiderte sein Vater. Er zeigte Hester ihren Platz, und der Diener rückte den Stuhl für sie zurück. »Wir wissen, daß du ein unanfechtbares Motiv für deine Verspätung hattest. Außerdem haben wir uns ganz gut amüsiert, denke

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