Eine Stadt names Cinnabar
bis zur Katatonie. Monatelang wollte ich überhaupt nicht aus dem Hause gehen. Ich las viel und hatte heroische Phantasievorstellungen – die Heilige Johanna, Robin Hood, Gerry Cornelius und so weiter. In der Phantasie lebte ich alle möglichen anderen Menschen zu verschiedenen Zeiten.“
„Wirklichkeitsflucht.“
„Hast du nie dergleichen geträumt?“
„Natürlich.“
„Wovon?“
Er dachte über die Frage nach. „Ich kann mich nicht erinnern.“
„Ich träumte mich als Helden. Ich sah mich stark und geschmeidig wie ein Puma. Zu meinem Geburtstag schenkten mir meine Eltern alles das. Die Rekonstruktion dauerte Monate. Und dann nochmals Monate für die körperliche Ausbildung.“
Macy war fasziniert. „So ein Unterschied zu diesem Hob – kaum zu glauben.“
„Manchmal wünschte ich, ich wäre wieder so wie früher.“
„Das ist ja blöd.“ Sanft küßte er die Linie ihres Kinns. „Jetzt bist du schön.“
„Würdest du das auch empfinden, wenn ich die auf dem Holo wäre?“
Er zögerte. „Doch – ich glaube schon.“
„Das ist nur eine Annäherung an Ehrlichkeit.“ Sie lachte. „Du bist immer so verflucht politisch.“
„Meine schöne Puma Lou.“
Sie fuhr hoch. „Was?“
„Du hast doch davon geträumt, ein Puma zu sein. Puma Lou. Es paßt.“
„Es paßt“, murmelte Lou, und es klang wie eine Frage. „Es ist schon fast hell. Komm noch mal.“
Vor Sonnenaufgang traten sie an die hohen Ostfenster.
Besser, als mit einem Buch in einer introvertierten Welt zu liegen …?
Er sah auf. „Hast du etwas gesagt?“
Langsam schüttelte sie den Kopf.
„Weißt du“, sagte Macy, „daß du im Schlaf sprichst?“
Die Alt-Matriarchin der Olivera-Landis erschien kurz nach Mittag. Lou begrüßte ihre Mutter an der Tür.
„Guten Tag, Marie-Elouise“, sagte Anita. ‚Sind deine Gatten da?“
„Macy ist ausgegangen“, antwortete Lou, „Nels ist im Institut, und Richard ist mit ein paar Freunden auf der Seesnarkjagd.“
„Sehr schön. Ich wünsche mit dir allein zu sprechen.“ Sie führte Lou in den Salon. „Es ist nichts, wovon du nicht schon gehört hättest.“
„Ich habe es erwartet.“
„In der Familie wird über dich geredet“, fuhr Anita fort. „Wir machen uns Sorgen um dich. Glaubst du nicht, daß dieses Haus vielleicht ein bißchen zu groß für dich ist?“
„Ich habe drei Männer.“
„Und ist das nicht vielleicht auch ein bißchen viel?“
„Ich schaffe es schon.“
„Wirklich, Liebes?“ Sie legte ihre rundliche Hand auf den Arm ihrer Tochter. „Du bist jung und eigenwillig, Marie-Elouise, aber damit kommst du nur bis zu einem gewissen Punkt. Was willst du eigentlich machen?“
„Ich will hier leben“, antwortete Lou und folgte mit den Augen dem Teppichmuster. „Ich will den Menschen helfen.“
„Helden?“ hatte Macy früher einmal lachend gesagt. „Heldinnen? Mörder und Diebe – Ausgestoßene.“ Wütend hatte sie ihn aus ihrem Bett gewiesen.
Anita lachte. „Meine Liebe, um den Menschen zu helfen, gibt es Maschinen. Wir haben Besseres zu tun.“
Lou schwieg verstockt.
„Die Familie hat keine Lust mehr, dich auf diese Weise zu erhalten. Du hast deinen Spaß gehabt. Nun komm nach Hause.“
„In den Familienbetrieb?“
„Wenn du magst. Wir wollen dich nicht zwingen.“
„Und meine Männer?“
„Drei? Das finde ich ein bißchen extravagant. Behalte doch …“ – sie rollte mit der Schulter – „… ach, einer genügt.“
„ Willst du mich also heiraten?“
„Warum nicht?“ hatte Macy erwidert. „Die Bedingungen sind gut.“
„Ist das alles?“
„Liebes, wir spielen hier nicht LA MORT D’ARTHUR.“
„Mutter – kann ich mir das überlegen?“
„Noch mal? Na schön, bitte. Aber du mußt bald nach Hause kommen. Die Spesen, weißt du. Ein Zweithaus in Craterside Park zu unterhalten – das ist ja lächerlich. Du kannst nicht erwarten, daß diese Geburtstagsextravaganz ewig dauert.“
„Das sehe ich ein.“
„Dann reden wir bald noch einmal darüber.“ Anita erhob sich zum Gehen. „Oh, hast du das von unserem feinen Polizeichef gehört?“
„Was ist mit ihm?“
„Ich habe es heute früh in den Nachrichten gesehen. Er wurde diese Nacht von seinen eigenen Leuten festgenommen. Er hat versucht, eine Nacktskulptur auf einem Platz zu beschädigen.“
„Wie merkwürdig“, sagte Lou.
„In der Tat. Und was noch merkwürdiger ist – er schien vollkommen das Gedächtnis verloren zu haben. Die Polizei hat den
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