Eine Stadt names Cinnabar
hier nicht, daß er buchstäblich oder permanent sein Leben verlor. Der Student mit Namen Harry Vincent Blake wurde effektiv von seinem persönlichen Hier und Jetzt getrennt und irgendwoandershin transferiert. Irgendwoanders. Das ist Tod.
Gestank nach schmorendem Isoliermaterial.
Ein scharfer metallischer Geschmack auf der Zunge.
Der Ton einer Rippensäge in feuchtem Holz, schneidend und verklemmt.
Die leise, verschwommene Atmosphäre der Bibliothek hatte er bewußt gar nicht wahrgenommen. Der leichte Staub- und Modergeruch der Bücherstapel war ihm so vertraut, daß er unter der Bewußtseinsschwelle blieb. Vincent Blake war in Gedanken versunken: zum soundsovielten Male überdachte er seine Vorbereitungsnotizen für einen Test im zoologischen Labor. Er trat in die Drehtür und streckte die Hände vor. Seine Finger trafen auf nichts; er stürzte nach vorn … und nach vorn …
Mehr wie brennende Autoreifen, dieser Geruch …
Der Geschmack in seinem Schlund war Erbrochenes.
Das Jaulen der Kreissäge wurde harmonisch.
Dort hinten in der Mary Reed-Bibliothek hatte niemand auf die Drehtür geachtet; niemand hatte ihn eintreten oder nicht hinausgehen sehen. Das Mädchen am Ausgabetisch stellte das Radio lauter; empörte Gesichter wandten sich ihr zu. „O mein Gott!“ sagte jemand.
Tourmaline Hayes und Timnath Obregon hatten soeben einen Liebesakt im Laboratorium des letzteren vollzogen. Sie lagen locker umschlungen auf dem breiten Experimentiertisch, der an einem Ende leicht schräggestellt war, der Bequemlichkeit halber. Obregon und die Hayes waren alte Freunde, die ihre intermittierenden, wenn auch oft stürmischen Perioden der Freundschaft zu schätzen wußten.
„Müde?“
„Sex mit dir hat immer so etwas Festliches“, entgegnete Obregon.
„Deswegen bin ich ja auch ein Star“, antwortete Tourmaline.
„Sollte das etwa eine Kritik sein?“
„Nein, nur ein Kommentar. Vielleicht auch eine Kodifizierung und Beteuerung.“
„Alles auf einmal?“ Sie lachte leise und melodisch. Sanft strich sie mit den Fingernägeln über seinen Thorax.
„Tu das nicht, ich habe noch zu arbeiten.“
„Was für ein Projekt?“
„Diese Woche erfinde ich das Zeitreisen.“
Sie ließ die Nägel tiefer gleiten, über seinen Bauch. „Manchmal bist du einer der grandiosesten Menschen, mit denen ich jemals Liebe gemacht habe. Du hast Spaß daran, mich immer wieder mit etwas Neuem in Erstaunen zu versetzen. Tatsächlich Zeitreisen?“
Obregon gab einen Seufzer von sich, der ebensogut Zustimmung wie Lust bedeuten konnte. Vorsichtig nahm er ihre Hand weg. „Tatsächlich.“
Sie legte die Finger wieder auf seinen Bauch und drückte zart. „Einmal, in einer meiner Langeweile-Perioden, habe ich im Fernsehen einen Vormittagskursus in Zeitphysik mitgemacht. Der Professor meinte, die Aussichten für praktisches Zeitreisen seien verschwindend gering.“
„Typischer Populärwissenschaftler. Keine Phantasie.“ Wieder schob er ihre Hand weg.
Und wieder legte sie sie auf die gleiche Stelle. „Ich weiß. Deswegen treibt meine Neugier mich manchmal hierher ins Institut. Oder hast du gedacht, ich käme wegen der schwächlichen Aufmerksamkeiten, die du mir zu erweisen geruhst?“
Sie lachten beide. „Zeitreisen gibt es“, sagte Obregon. „Überall in Cinnabar kannst du Beweise dafür sehen.“
„Ich?“
Unvermittelt richtete er sich hoch und stützte sich auf die knochigen Ellbogen. „Achte nur einmal auf die Natur der Zeit-Wirbelströme über der Stadt. In der Innenstadt bewegen sie sich schneller als die Bänder draußen in den Vorstädten. Die Stadt ist so riesig, da bemerkt man es nicht immer. Doch der Unterschied ist ganz deutlich, wenn man von einem Band in das andere kommt.“
„Halt mir hier keinen Vortrag“, sagte Tourmaline und kniff ihn zart. „Das kann ich mir alles über die Medien anhören.“
Obregon zuckte zusammen … „Pardon. Manchmal vergesse ich, daß ich kein Pedant mehr bin.“
„Offiziell, heißt das. Ich habe dich im Verdacht, daß du dir manchmal zum Vergnügen eine Vorlesung ausdenkst.“
„Hör mal, willst du nun etwas über Zeitreisen wissen oder nicht?“
Sie stellte sich eingeschüchtert. „Jawohl, hoher Meister, ich möchte etwas über Zeitreisen wissen.“
„Dann bedenke folgendes: Ein Mensch, der sich dem STADT ZENTRUM in einer geraden Linie nähert, würde effektiv auf die objektive Zukunft zugehen. Jedes der konzentrischen Zeitbänder, das er auf dem Wege in Richtung
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