Eine Stadt names Cinnabar
Zur Zeit ist niemand …“
Ein Flüstern wehender Luft wirbelte hinter ihnen. Kein Mensch merkte etwas. Vincent Blake stolperte vorwärts, die Finger gegen die kalte Wirklichkeit des metallenen Griffs der Drehtür gepreßt. Ohne zu wissen, wo er war, gelangte er ins Freie, wo zwei Studentinnen soeben die Treppe heraufkamen. Sie kicherten über seine verwirrte Miene.
Er schüttelte den Kopf und entschied, daß heute ein Tag war, an dem er es sich leisten konnte, einen Zoologie-Test links liegen zu lassen. Heute nachmittag war er in die Bibliothek gekommen, um sich über den derzeitigen Stand der Immunologie zu informieren.
„Glaubst du, daß es gut mit ihm gehen wird?“ fragte Tourmaline.
„Ich weiß, daß es gut mit ihm geht“, erwiderte Obregon.
Sie lagen in einer rot und blau gestreiften Hängematte, die zwischen zweien der höchsten Äste von Tourmalines Baum geknüpft war. Dort konnte man wunderbar den geschäftigen Insekten in der Blätterhülle lauschen. Die Nachmittagssonne bräunte ihre Haut noch goldener. Tourmalines Fingernägel glitten über Obregons Brust. „Erzählst du mir was über seinen Nachruf?“
„Wenn es dich nicht betrübt?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Er hat einen sogenannten Nobel-Preis bekommen.“
„Ist das was Gutes?“
„Anscheinend das Höchste in seiner Zeit. Er wurde ihm verliehen für seine Forschungen zur Genetik und Biologie der menschlichen Fortpflanzung.“
„Dann ist er also Biologe geworden, wie er es sich gewünscht hat. Das ist gut.“
Obregon nickte. „Er wurde berühmt als der sogenannte Vater der biologischen Revolution; ein Titel, über den er sich sehr amüsiert haben muß. Es war sonderbar, daß ihm diese Auszeichnung zuteil wurde. Er war strenger Individualist in einer Zeit, die für den Trend zur Teamarbeit in Forschung und Wissenschaft bekannt war.“
„Ist er unverheiratet geblieben?“
„Ja. Warum?“
Sie lachte.
„Ich hatte Angst, er würde ein langes und monogames Leben mit jemandem namens Karen verbracht haben.“
„Betrauert von seinen Nachkommen, heißt es.“
„Gut.“
Obregon schwieg einen Moment und fuhr dann fort: „Vince wurde von der großen Mehrheit seiner Generation abgelehnt. In seinen letzten Lebensjahren nannte man ihn im Volk einen Verräter an der Menschheit.“
„Warum?“
„Vince war ein Pionier der Ektogenese.“
Langsam trat ein Lächeln auf Tourmalines Züge.
„Er hatte einen Sinn für den propagandistischen Wert der öffentlichen Zurschaustellung. Als er das Mannesalter erreichte, trug er ein Kind aus. Der kulturelle Schock war unberechenbar; er war der erste weiblich-alternierende Mann, der erste Heterogyn.“
„Großartig.“
„Das ging noch weiter. Die erste abstoßungsfreie Implantierung eines Uterus war erst das halbe Experiment; die andere Hälfte war der Ursprung des Embryos: Er wurde aus seinem eigenen Körpergewebe geklont.“
Sie bekam ganz große Augen und öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen.
„Das Gewebe stammte aus seiner Niere. Er nannte seine Tochter Tourmaline.“
Tourmaline war sprachlos.
„Man kann also sagen, daß du schließlich doch Mutter geworden bist.“
„Und Vater.“
„Ja. Das auch.“
„Gibt es ein Happy-End?“
„Ich mag es dir kaum erzählen. Er wurde von Unbekannten erschlagen. Sein Märtyrertod half der Bewegung, die seine Anhänger gründeten.“
Sie starrte in die Bäume unter ihnen. „Ist er alt geworden?“
„Ja, er war alt.“
„Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.“
„So oder so – es war ein guter Schluß.“
„Dann will ich lächeln“, entschied Tourmaline. Ihre Körper berührten sich, und sekundenlang waren sie drei vereint. Dann waren sie wieder nur zwei, und die beiden weinten vor Leid um den Verlust des Dritten.
Späte Jahre
Arthur Sand über Brutalität: „Je älter ich werde, um so weniger Subtilität kann ich verkraften.“
Es gab einmal eine Zeit, da alterten eine Anzahl Menschen in Cinnabar relativ schnell. Als Refugium für diese Älteren etablierte Terminex die Siedlung Serenum, auch das Ehrwürdige Dorf genannt. Es lag etwa halbwegs zwischen der Innenstadt und dem Grüngürtel, direkt unterhalb des Nordstrandes. Das Serenum war eine Ansammlung gewundener Pfade, künstlicher Wälder, ländlicher Hütten und blauer Teiche.
Die meisten Bewohner des Serenums lebten allein. Sie gehörten zu den wenigen in Cinnabar, die gegen Anti-Agathismus resistent waren. Bestrahlung,
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