Eine Stadt names Cinnabar
Medikation und Spektralchirurgie hatten nur lindernde Wirkung. Die Transplantation von Drüsen des See-Snarks nützte gar nichts. Diese Menschen wurden schlaff und runzlig wie welker Kopfsalat.
Arthur Sand wohnte in einem Häuschen am oberen Ufer eines der schönsten Teiche, zusammen mit seiner Frau Estrella und seiner Tochter Leah. Obwohl Kernfamilien im Serenum selten waren, hatte Leah mit ihren Eltern zusammenbleiben wollen. Sie war eine vielversprechende Nachwuchsregisseurin beim Medienverband, und auf ihre Bitte hatte der Verband ihren Antrag befürwortend weitergeleitet. Der Computer, der wohl seine Gründe haben mußte, gab dem Ersuchen statt.
Die Jahre vergingen, und Leah begann, sich Sorgen zu machen. Es fiel ihr auf, daß ihre Eltern sich nie zankten. Außerdem begriff sie das Verhalten ihres Vaters nicht. Arthur Sand hatte seine Phantasiewerkstatt, die ihm zu tun gab und ihn bei Laune hielt, und seine lebenden Phantasmen wurden ständig brutaler.
Eines Tages versuchte Leah, mit einem psychologischen Berater zu sprechen. „Es handelt sich um meine Eltern. Als wir noch nicht im Serenum wohnten, wurde allgemein vom Periodizitätsprinzip gesprochen. Es hieß, nur damit könnten Menschen alt werden, ohne sich gegenseitig umzubringen. Ich habe nichts dagegen, bei meinen Eltern zu bleiben; aber sie sind jetzt zwei Jahrhunderte lang ununterbrochen zusammen. Das muß sich ja schließlich bei Vater bemerkbar machen.“
Der Berater, eine resurrektronische Freud-Büste, nickte weise. „Es ist eine Verantwortung. Versuchen Sie, sich keine Sorgen zu machen.“
„Ich muß zur Probe.“ Sie fand, daß sie zu einem Berater aus Metall kein Vertrauen haben konnte.
Nachdenklich betrachtete Arthur Sand den ausgespreizten Leib seiner Frau. Sie war an Händen und Füßen festgenagelt. „Bitte, Arthur – es tut so weh!“
„Ganz recht, Liebling. Ich habe extra stumpfe und rostige Nägel genommen.“ Arthur Sand bückte sich und tippte an den Nagel in ihrem rechten Fuß. Sie wölbte den Rücken und lag dann still auf dem Holzfußboden. „Das ist ja langweilig“, sagte er und setzte ein Gestell mit Flaschen auf den Fußboden. Dann wickelte er eine Anzahl Glasfaserpinsel aus.
Estrella wandte den Kopf ab.
„Ich male eine Strandszene, Liebling.“ Er stippte einen Pinsel ein und begann, Flüssigkeit auf ihren bloßen Bauch zu vermalen. Endlich hockte er sich befriedigt auf die Fersen. „Ein großartiges Seestück.“ Er sah auf seine Uhr und zählte stumm die Sekunden.
„Jetzt!“ Die zeitselektiven Säuren begannen zu wirken und zu schäumen, fraßen sich in die Topographie von Estrellas Bauch ein. „Rasch!“ sagte er, „schau auf deinen Bauch!“
Die Säuren wirkten mit unterschiedlicher Schnelligkeit. Estrella starrte auf ihren Bauch hinunter und sah momentweise eine grobe Reliefkarte von Cinnabar. Dann schloß sie die Augen, denn aus ihrer angefressenen Aorta ergoß sich eine blutige Flutwelle über die Stadt.
„Wunderbar“, sagte Arthur und beobachtete, wie sein Kunstwerk zu einer pulsierenden Blutlache auseinanderlief. Der Gedanke an Masturbieren ging ihm durch den Kopf, und unvermittelt empfand er ein flüchtiges, bitteres Verlustgefühl.
Als Leah zum Abendbrot ins Serenum zurückkam, fand sie ihre Mutter draußen in der Sonne sitzen. Die Teichoberfläche reflektierte ein Abbild von Estrellas neuester Stickerei. Es war ein unvollendetes Porträt von Nechbeth, der Geiergöttin. Lächelnd sah Estrella zu ihrer Tochter auf.
„Wo ist Vater?“ fragte Leah.
„Er wird wohl in seiner Werkstatt sein.“
Mutter und Tochter sahen einander prüfend an. Sie waren sich so ähnlich, daß man sie für Zwillinge halten konnte. Nur ihre Augen verrieten Estrellas Alter: grau, doch blaß, wie von der Zeit verblichen.
„Liebst du Vater?“
„Das ist ein seltsames Wort, Leah. Liebe ist ein vergängliches kulturelles Konzept. Kurz bevor du geboren wurdest, kam es wieder in Mode.“
„Aber liebst du ihn?“ bestand Leah auf ihrer Frage.
„Nicht oft. Gelegentlich habe ich ihn ganz gern. Ich empfinde ihm gegenüber – mit Unterbrechungen allerdings – ein Gefühl von Loyalität.“
„Du tust dir unrecht. Dir haben wir es doch zu verdanken, daß wir noch eine Kernfamilie sind.“
„Ich habe mich daran gewöhnt“, entgegnete sie bitter. „Ich bin in erster Linie ein Gewohnheitsmensch.“ Sie blickte auf ihren Strickrahmen. „Ich kenne ihn zu gut. Dein Vater und ich leben jetzt fast
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