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Eine Studie in Scharlachrot

Eine Studie in Scharlachrot

Titel: Eine Studie in Scharlachrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Conan Doyle
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genau über seiner Brust befestigt. In großen, tanzenden Druckbuchstaben hatte man darauf geschrieben:
    »Neunundzwanzig Tage sind dir gegeben, Buße zu tun, aber dann –«
    Der Gedankenstrich war furchteinflößender, als jede Drohung es hätte sein können. Es stellte John Ferrier vor das arge Rätsel, wie diese Warnung in sein Zimmer gekommen sein mochte, denn seine Bediensteten schliefen sämtlich in einem abgelegenen Nebenhaus, und alle Türen und Fenster waren verschlossen gewesen. Er zerknüllte das Papier und sagte seiner Tochter nichts, aber der Vorfall sorgte dafür, daß ihm kalt ums Herz wurde. Die neunundzwanzig Tage waren offenbar der Rest des Monats, den Young versprochen hatte. Welche Kraft, welcher Mut konnten gegen einen Feind helfen, der mit solch mysteriösen Kräften ausgestattet war? Die Hand, die den Zettel mit einer Nadel befestigt hatte, hätte ihm diese auch ins Herz stoßen können, und er hätte niemals erfahren, wer ihn gemeuchelt hatte.
    Noch mehr erschütterte ihn der nächste Morgen. Sie hatten sich zum Frühstück niedergelassen, als Lucy mit einem Ausruf der Überraschung nach oben deutete. In der Mitte der Decke stand, offenbar mittels eines angebrannten Stocks geschrieben, die Zahl 28. Für seine Tochter war es unverständlich, und er erklärte es ihr nicht. In dieser Nacht wachte er mit seinem Gewehr. Er sah und hörte nichts, und doch fand er morgens eine große 27 auf die Außenseite der Tür gemalt.
    So folgte ein Tag dem anderen, und so sicher, wie der Morgen kam, stellte er fest, daß seine unsichtbaren Feinde ihren Kalender weiterschrieben und an irgendeiner gut sichtbaren Stelle verzeichnet hatten, wie viele Tage des Gnadenmonats ihm noch verblieben. Manchmal erschienen die unheilvollen Zahlen auf den Wänden, manchmal auf dem Boden, bisweilen fanden sie sich auf kleinen Anschlagzetteln am Gartentor oder am Zaun. Trotz aller Wachsamkeit konnte John Ferrier nicht entdecken, woher diese täglichen Warnungen stammten. Bei ihrem Anblick überkam ihn ein beinahe abergläubisches Grauen. Er wurde hager und ruhelos, und seine Augen nahmen den kummervollen Blick eines gehetzten Tieres an. Er hoffte nur noch auf eines in seinem Leben: die Ankunft des jungen Jägers aus Nevada.
    Zwanzig war zu Fünfzehn geworden, und Fünfzehn zu Zehn, aber es gab keine Nachrichten von dem Abwesenden. Eins um eins wurden die Zahlen kleiner, und noch immer kam von ihm kein Zeichen. Sooft ein Reiter die Straße entlangpreschte oder ein Treiber seinem Gespann etwas zurief, eilte der alte Farmer zum Tor, in der Annahme, daß endlich Hilfe gekommen sei. Als er schließlich die Fünf der Vier und diese der Drei weichen sah, verlor er den Mut und ließ alle Hoffnung auf einen Ausweg fahren. Allein und mit seiner begrenzten Kenntnis der Berge, die die Ansiedlung umgaben, war er machtlos und wußte es auch. Alle belebteren Straßen wurden streng beobachtet und bewacht, und ohne einen Auftrag des Rats konnte niemand auf ihnen reisen. Wohin er sich auch wenden mochte, es schien keine Möglichkeit zu geben, den Schlag abzuwehren, der über ihm hing. Dennoch schwankte der alte Mann keinen Augenblick in seiner Entschlossenheit, lieber sein Leben zu geben als in etwas einzuwilligen, was für ihn die Schändung seiner Tochter war.
    Eines Abends saß er allein da und grübelte versunken über seinen Sorgen und suchte vergebens nach einem Ausweg. Am Morgen des Tages hatte die Zahl 2 auf der Hauswand gestanden, und der folgende Tag wäre der letzte der gewährten Zeit. Was würde dann geschehen? Alle möglichen vagen und schrecklichen Bilder erschienen in seiner Vorstellung. Und seine Tochter – was sollte aus ihr werden, wenn er nicht mehr da war? Gab es denn kein Entrinnen aus dem unsichtbaren Netz, das um sie zusammengezogen wurde? Er ließ den Kopf auf den Tisch sinken und schluchzte beim Gedanken an seine Machtlosigkeit.
    Was war das? In der Stille hörte er ein leises kratzendes Geräusch – leise, aber in der ruhigen Nacht deutlich vernehmbar. Es kam von der Haustür. Ferrier schlich in die Diele und lauschte angespannt. Einige Momente geschah nichts, dann wiederholte sich das leise, verstohlene Geräusch. Offenbar klopfte jemand ganz leicht auf eines der Türbretter. War es ein mitternächtlicher Mörder, der gekommen war, die tödlichen Befehle des Geheimgerichts auszuführen? Oder war es ein Beauftragter, der ein Zeichen anbringen sollte, daß der letzte Tag der Gnade gekommen war? John Ferrier empfand,

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