Eine Sünde zuviel
Luise ist entführt worden!«
Dr. Kutscher schwieg ein paar Sekunden. Er schien nachzudenken. Dann sagte er: »Dahlmann, seien Sie einmal ehrlich – es ist notwendig – Wer hätte außer Ihnen ein Interesse daran, eine blinde Frau zu beseitigen?«
»Ich könnte erpreßt werden –«
»Sie Witzknoten! Etwas Besseres könnte Ihnen ja nicht passieren! Sie weigern sich zu zahlen, und Ihre Frau geht hops! Und Dahlmännchen steht rein da wie Pontius Pilatus. Ich rate Ihnen noch einmal: Geben Sie den plumpen Trick auf und schaffen Sie Ihre Frau herbei –«
Dahlmann wischte sich mit zitternder Hand über die Augen. »Doktor –«, seine Stimme war ehrlich besorgt und niedergeschlagen, »glauben Sie mir doch. Ich werde sofort die Polizei benachrichtigen …«
»Sie wissen, daß Vermißtenmeldungen erst vierundzwanzig Stunden nach dem Feststellen des Verschwindens bearbeitet werden. Bis dahin kann Ihre Frau –«
»Ich brauche Ihren Rat!« brüllte Dahlmann außer sich. »Sie ist weg, Fräulein Pleschke kann es bezeugen, und ich will jetzt von Ihnen wissen, was Sie zu tun gedenken.«
»Nichts –«
»Doktor, ich schwöre Ihnen, daß meine Frau weg ist!«
»Jetzt fangen Sie auch noch an, Gott zu belästigen!« Die Stimme Dr. Kutschers war voller Abwehr. »Aber wenn Sie wollen, komme ich vorbei und höre mir die Mär des Fräulein Pleschke an.«
»Und wenn Sie überzeugt sind, daß es stimmt?«
»Dann hat man Sie herrlich hereingelegt, Dahlmann. Dann werden Sie bald von den Brüdern hören, die Ihre Frau als melke Kuh ansehen. Und dann allerdings werden wir den ganzen Polizeiapparat in Bewegung setzen. Nur glaube ich nicht, daß es soweit kommen wird.«
»Und warum nicht?«
»Ich habe das im Gefühl.«
»Sie und Ihre Gefühle!« schrie Dahlmann. »Ich erwarte Sie sofort!«
Mit einem Hieb warf er den Hörer zurück.
»Sie bleiben hier, Erna!« brüllte er. »Wenn Sie sich weniger um Ihre Hormone und mehr um meine Frau gekümmert hätten, wie es Ihre Pflicht war, wäre so etwas nie vorgekommen!«
Erna Pleschke rettete sich in heftiges Schluchzen. Es blieb ihr auch nichts anderes übrig. Nur schuldig fühlte sie sich nicht. Man kann einen erwachsenen Menschen ja nicht dauernd mit sich herumschleppen wie die Chinesen ihre Säuglinge.
Als Dr. Kutscher eintraf, fand er Dahlmann in aufgelöster Verfassung. Das ist kein Theater mehr, dachte er. Das ist echt. Und auch ihm wurde es merkwürdig hohl in der Magengrube.
*
Zwei Stunden vorher noch hatte Dr. Kutscher ein kurzes Gespräch mit dem Psychiater Dr. Vierweg gehabt.
Dr. Vierweg, jung und ehrgeizig und erst im Aufbau einer eigenen Praxis, hatte sich hinter diesen mysteriösen Fall gekniet und ein Gutachten ausgearbeitet, das er der psychiatrischen Klinik einreichen wollte. Auch spielte er mit dem Gedanken, hintenherum der Presse einen Wink zu geben … es war eine Patienten bringende Publicity, wenn einige Zeitungen den Fall brachten. Das Drama der blinden Luise … ein roter Balkentitel in einem Boulevardblatt, im Artikel ein paarmal der Name Dr. Vierweg. Es würde bald bekannt werden, wo die Praxis dieses tüchtigen Psychiaters liegt. Dr. Vierweg hatte dabei keinerlei standesethische Bedenken … wenn Ordinarien ihre Herz-Lungen-Maschinen-Operationen oder Transplantationsversuche der Presse zugänglich werden ließen, dann kann das ein kleiner, junger Arzt auch. Dr. Vierweg sah nicht ein, daß indirekte Reklame nur für Professoren da sein sollte. Er stieß damit zwar in ein Wespennest, aber auch gegen Wespen gibt es Mittel.
Dr. Kutschers Anfrage war deshalb schnell beantwortet.
Sie lautete:
»Doktor … ist Ihrer Meinung nach Frau Dahlmann nicht voll geschäftsfähig?«
»Das ist sie auf gar keinen Fall.« Dr. Vierweg antwortete unkompliziert, was ihn auch wohltuend von anderen Ärzten unterschied.
»Es ist also unmöglich, daß sie testamentarische Änderungen vornimmt?«
»Völlig unmöglich.«
»Schenkungen?«
»Sie könnten aufgrund meines Gutachtens juristisch sofort angefochten werden.«
»Auch gegenüber dem Ehemann?«
»Auch da! Meines Erachtens müßte ein gesetzlicher Vormund und eine Vermögensverwaltung eingesetzt werden.«
»Sehr gut! Und die Aussichten auf Heilung?«
»Sind gut. Wenn man auch nicht sagen kann, wie lange es dauert. Aber solche Psychosen lassen sich durch Elektroschocks abdämpfen oder völlig verdrängen.«
»Danke. Ich gratuliere zu dieser Diagnose.« Dr. Kutscher legte auf. Dann saß er nachdenklich am
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