Eine Tankstelle fuer die Seele
erinnerte sie sich – wie sie mir später berichtete – an ihre verstorbene Großmutter, die sie sehr geliebt hatte. Mit ihr verband sie sich in ihrer Angst, sprach mit ihr und bat sie um Hilfe und bekam dadurch spürbar die Kraft weiterzukämpfen, wenn sie sich mutlos und hoffnungslos fühlte. In einem kleinen Ritual stellte sie dazu sowohl ihre Großmutter als auch deren Schwester in ihrer Vorstellung hinter sich und bat sie, ihr den Rücken zu stärken. Als ihr Sohn seine Krankheit ganz überstanden hatte, machte sie mit ihm einen Ausflug zum Chiemsee und bedankte sich zunächst bei Gott und dann bei allen guten – bekannten und unbekannten – Geistern für die Heilung.
Viele Jahre hat es gedauert, bis ich die Dimension der Archetypenlehre in ihrer Bedeutung für unser persönliches Leben wirklich begriffen habe. Dabei gab es viele Beispiele, die mich bereits vor Jahren tief berührt und mir schon damals deren Kraft gezeigt haben. Ich saß wieder einmal auf einer Bank, diesmal unter einer Linde mitten in einem kleinen Dorf. Eine alte Frau setzte sich neben mich und es entwickelte sich ein Gespräch über dies und das. Sie erzählte ein bisschen aus ihrem Leben und ich fragte neugierig immer weiter, weil ich gerne Geschichten alter Menschen höre. Sie erzählte, dass sie alle drei Söhne im Zweiten Weltkrieg verloren habe, kurz nacheinander. Überlebt habe sie das nur, so fuhr sie fort, weil sie seit dieser Zeit täglich – bis heute – zur Gottesmutter bete, ja eigentlich mit ihr spreche. Früher, als sie noch »mobil« war, fuhr sie mit dem Fahrrad zu einer kleinen Waldkapelle und jetzt – wo sie nicht mehr so gut zu Fuß sei – bete sie den Rosenkranz hier in der Kirche oder bei ihr zu Hause. »Die Gottesmutter hat«, so fuhr sie fort, »meinen Schmerz verstanden, sie ist ja selbst Mutter gewesen, die ihren einzigen Sohn hat hergeben müssen.« Nur da habe sie Trost gefunden, und wenn es mal wieder ganz arg war mit dem Schmerz, dann musste der liebe Gott schon was aushalten, sagte sie. »Dann haben wir zwei Mütter schon nicht verstanden, warum er uns das angetan hat.« Aber das wären die selteneren Momente gewesen, in denen sie gehadert hätte, fuhr sie fort. Ich schaute mir die abgearbeiteten Bauernhände und das zerfurchte Gesicht an und war zutiefst beeindruckt von dieser schlichten Weisheit und vor allem von diesem tiefen Glauben und Vertrauen. Die vielen Wallfahrtsorte der Welt, an denen unzählige Tafeln zu finden sind mit der Aufschrift »Maria hat geholfen« geben ein eindrucksvolles Bild von der Kraft der Muttergottes, von dem Trost und auch von der Heilung, die viele Menschen hier gefunden haben und immer noch finden. In unserem kollektiven Unbewussten schlummern ganz offensichtlich viele solcher kraftvollen Bilder, die Trost und Hilfe geben, da, wo häufig menschliches Verstehen und menschlicher Trost versagen.
Viele ähnliche Erfahrungen, von denen Sie in diesem Buch noch hören werden, bestätigen die Wirkkraft archetypischer Bilder und zeigen damit, dass wir einen enormen inneren Weisheitsschatz besitzen, den wir aktivieren und nützen können. Seit Jahren gibt es diesbezüglich Unterstützung vonseiten der Gehirnforschung. Das uralte Weisheitswissen der Menschheit wird mit modernen Mitteln bestätigt. So erkennt man wieder die Heilkraft des Gebets und die Möglichkeit von Wundern, die Menschen durch tiefen Glauben erfahren, zum Beispiel an den großen Marienwallfahrtsorten dieser Welt.
Manchmal ergeben sich Begegnungen mit Menschen, die eine archetypische Qualität verkörpern, spontan und unerwartet. Und manchmal geht es darum, diese Beziehungen bewusst zu pflegen, wenn wir ihr archetypisches Potenzial nutzen wollen. So geschieht es zum Beispiel im Verhältnis von geistigen Lehrerinnen und Lehrern zu ihren Schülern und Schülerinnen, von Priestern und Pfarrerinnen zu ihren Gläubigen oder in der Begegnung zwischen Therapeuten und Klienten. Dabei ist besonders wichtig, dass wir uns des realen Menschen mit seinen Licht- und Schattenseiten bewusst sind, der die archetypische Qualität verkörpert. So können wir vermeiden, dass wir uns durch Idealisierung und Reduzierung auf ein archetypisches Ideal gegenseitig überfordern und am Ende enttäuscht sind. Erinnern Sie sich an Begegnungen mit Menschen, die eine solche archetypische Qualität für Sie verkörpert haben? Vielleicht war es eine Lehrerin oder ein Lehrer, vielleicht ein Sporttrainer oder eine Yogalehrerin, die etwas in Ihnen
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