Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Tankstelle fuer die Seele

Eine Tankstelle fuer die Seele

Titel: Eine Tankstelle fuer die Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna E. Roecker
Vom Netzwerk:
Kopf herum. Oft sind es vor allem die eigenen Vorstellungen und weniger die Vorhaltungen von anderen, die quälende Gefühle von Schuld in uns auslösen. In harmlosen Bemerkungen oder dem Nicht-Reagieren des anderen, zum Beispiel auf eine SMS, wird dann schon der Beweis für ein eigenes Fehlverhalten gesehen, die Bestätigung, dass man etwas falsch gemacht hat. Die Situation, für die man sich schuldig empfindet, erscheint immer wieder vor dem inneren Auge. Beruhigende Worte selbst der besten Freundin werden gar nicht wahrgenommen. Aber abgesehen von den eigenen Schuldvorwürfen bieten sich Menschen mit diesem Muster geradezu an, um ihnen die Schuld aufzuladen. Das uralte Bild des Sündenbocks, der beladen mit der Schuld aller in die Wüste geschickt wurde, kommt mir dabei in den Sinn. Das Projizieren von Schuld auf eine Volksgruppe oder einen Menschen, der sich in gewisser Weise dafür anbietet, scheint ein uraltes, ein archetypisches Thema zu sein. Auch die Art und Weise, wie man darauf reagiert, mit Schuldzurückweisung und / oder sofortigem Übernehmen von Schuld, scheint inneren Urbildern zu folgen. In beiden Fällen muss man sich nicht wirklich mit Schuld auseinandersetzen, weil man einfach nur einem Muster folgt, das einem vertraut ist. Hat sich das Muster, die Schuld auf sich zu nehmen, erst einmal verselbstständigt, stellt es sich auch ein, wenn man nicht wirklich beschuldigt wird.
    Eine Yogalehrerin kam mit diesem Thema zu mir in die Praxis. Ihre Kurse sind äußerst beliebt und trotzdem betrachtet sie am Schluss der Stunde ängstlich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, um herauszufinden, ob es jemanden vielleicht nicht gefallen hat, ob alle zufrieden sind, damit sie sich »keine Vorwürfe machen muss«, wie sie sagte. Als eine Teilnehmerin sich darüber beschwerte, dass es bei offenem Fenster zu laut sei im Raum, brach sie in Tränen aus und entschuldigte sich wortreich bei allen. Auch in ihrer Familie hatte sie, als sie zu mir in die Praxis kam, seit einigen Monaten einen Konflikt, in dem es auch um das Thema Schuld ging. So war die Situation in ihrer Yogastunde nur der letzte Tropfen gewesen, der das Fass – und damit ihre Tränen – zum Überlaufen gebracht hatte, und das, obwohl es die anderen Teilnehmerinnen offensichtlich gar nicht gestört hatte. Dennoch fühlte sie sich verantwortlich für die Baustelle vor ihrer Tür, so wie für viele andere Dinge, die sie eigentlich nicht zu verantworten hatte.
    Während der Musikreisen und Gespräche tauchten viele Erinnerungen an ihre Kindheit auf, die das Phänomen ein Stück weit erklärten. Daneben kam ihr grundsätzlicher Perfektionismus, der Wunsch, alles nicht nur gut, sondern eben perfekt zu machen, deutlich zum Vorschein. Den Durchbruch zur Veränderung dieses Musters brachte schließlich ein archetypisches Bild, das sie seither begleitet und mit dem sie in fruchtbarer Weise an dem Thema arbeitete. Sie erlebte sich selbst auf einer Wanderung und stand plötzlich vor einem hohen, unüberwindlich scheinenden Berg. Sie hatte im wahrsten Sinne des Wortes das Gefühl, der Berg stehe ihr im Weg und ließ sich auch nicht verrücken. Eigentlich hatte sie vorgehabt, diesem Weg zu folgen, aber das war jetzt nicht mehr so einfach möglich. Entweder musste sie einen Weg um den Berg herum finden oder mühsam über den Berg auf die andere Seite kommen. Sie sprach laut zu sich selbst, während sie in der tiefen Entspannung auf meiner Liege lag, ob der Berg nun schuld daran sei, dass sie ihren Weg nicht fortsetzen könne. Der Berg sagte zu ihr: »Das ist mein Platz hier« und »Du bist auf deinem Weg und so müssen wir miteinander umgehen lernen«. Längere Zeit verbrachte sie im Dialog mit dem Berg, der sie schließlich einlud, sich in ihn hineinzuversetzen. Und das war, wie sie später berichtete, ein unglaubliches Erlebnis. Noch nie hatte sie sich so klar, so kraftvoll und so zentriert gefühlt. Später erzählte sie mir, dass die Yogahaltung »Der Berg« nun ihre Lieblingsübung geworden sei, weil sie sich dadurch auf eine geheimnisvolle Weise mit »ihrem Berg« verbunden fühlte. Immer wenn sie jetzt in die Gefahr kommt, sich sofort auf den anderen einzustellen, seine Gefühle wahrzunehmen und sich im negativen Fall sofort dafür schuldig zu fühlen, erinnert sie sich an den Berg und ruft dieses klare, kraftvolle Gefühl in sich auf. Erst dann – so berichtete sie mir – betrachtet sie die Situation genauer und entscheidet, wie angemessen zu reagieren und zu

Weitere Kostenlose Bücher