Eine Tiefe Am Himmel
das, was Viki selbst gerade hatte vorschlagen wollen. Gesegnet sei die Geduld.
Die Straße lag still im morgendlichen Schatten. Dies war der tiefste Winter in Weißenberg. Hier und da war der Reif in den dunkleren Höhlungen so tief, dass er selbst Schnee hätte sein können. Doch der Stadtteil, durch den sie jetzt gingen, hatte keine Gärten. Die einzigen Pflanzen waren widerspenstiges Unkraut und freie Kriecher. An schwülen, heißen Tagen zwischen Unwettern hätte es auf dem Platz Mücken und Sauger gegeben.
Auf beiden Seiten der Straße standen mehrstöckige Lagerhäuser. Hier war es nicht so still und verlassen. Der Boden surrte und brummte – die Geräusche unsichtbarer Grabmaschinen. Schwere Lastwagen fuhren in das Gebiet und wieder heraus. Alle paar hundert Meter war ein Flecken Land für alle außer den Bautrupps abgesperrt. Viki zog an Brents Armen und wollte unter den Absperrungen durchkriechen. »He, es ist unser Papa, der das alles bewirkt hat! Wir haben ein Recht, es uns anzusehen!« Brent akzeptierte derlei Argumente nie, doch seine kleine Schwester war schon an den Verbotsschildern vorbei. Er musste ihr folgen, und sei es, um sie zu beschützen.
Sie krochen an großen Bündeln Bewehrungsstahl vorbei und an Stapeln von Ziegeln. Dieser Ort hatte etwas Machtvolles und Fremdartiges. Im Haus auf dem Hügel war alles so sicher, so ordentlich. Hier… nun, sie sah endlose Möglichkeiten, wie sich jemand Unvorsichtiges einen Fuß aufschlitzen, ein Auge schneiden konnte. Verdammt, wenn man eine von diesen stehenden Platten umkippte, würde sie einen platt quetschen. Alle Möglichkeiten standen ihr kristallklar vor dem inneren Auge… und sie waren aufregend. Die beiden gingen vorsichtig zum Rand der Baugrube, wichen den Blicken der Arbeiter und diversen interessanten Gelegenheiten zu schweren Unfällen aus.
Das Geländer waren zwei Bindfäden. Wenn du nicht sterben willst, fall nicht runter! Viki und ihr Bruder hielten sich dicht am Boden und streckten die Köpfe über den Abgrund. Einen Augenblick lang war es zu dunkel zum Sehen. Die erhitzte Luft, die aufstieg, trug den Geruch von brennendem Öl und heißem Metall. Es war eine Liebkosung und ein Schlag vor den Kopf zugleich. Und die Geräusche: die Rufe von Arbeitern, das Knirschen von Metall auf Metall, Maschinen und ein seltsames Zischen. Viki senkte den Kopf und ließ alle Augen sich an das Dämmerlicht anpassen. Es gab Licht, doch nicht zu vergleichen mit dem Licht von Tag oder Nacht. Sie hatte in Papas Labors kleine elektrische Bogenlampen gesehen. Diese hier waren riesig: Lichtstäbe, die größtenteils in Ultra und Fern-Ultra glühten – Farben, die man niemals hell sah, außer in der Sonnenscheibe. Die Farbe sprühte von den Hauben der Arbeiter ab, verstreute geflecktes Flimmern den Schacht auf und ab… Es gab andere, weniger spektakuläre Lichter, stetigere, elektrische Lampen, die hier und da Kleckse zahmen Lichtes ergossen. Noch zwölf Jahre bis zum Dunkel, und sie bauten dort unten eine ganze Stadt. Sie sah steinerne Straßen, riesige Tunnel, die von den Wänden des Schachts wegführten. Und in den Tunneln erspähte sie dunklere Löcher… Rampen zu kleineren Grabungsstellen? Gebäude und Gärten würden später folgen, doch die Höhlen waren schon größtenteils gegraben. Als sie hinabschaute, fühlte Viki eine Anziehung, die ihr neu war, die natürliche, schützende Anziehung einer Tiefe. Doch was diese Arbeiter taten, war tausendmal großartiger als jede Tiefe. Wenn man weiter nichts vorhatte, als das Dunkel durchzuschlafen, brauchte man nur Platz genug für den Schlafteich und einen Vorrat für den Anfang. Das gab es bereits in den städtischen Tiefen unter dem alten Stadtzentrum, und zwar seit fast zwanzig Generationen. Diese neuen Bauten waren bestimmt, darin zu leben, wach. An manchen Orten, wo hermetische Abschließung und Isolation gewährleistet werden konnten, wurden sie direkt am Boden errichtet. Andernorts wurden sie Hunderte von Metern tief eingegraben, eine unheimliche Umkehrung der Gebäude, die Weißenbergs Silhouette bildeten.
Viki starrte und starrte, in Träume verloren. Bisher war es alles eine Geschichte von weitem gewesen. Klein Viktoria hatte davon gelesen, hatte ihre Eltern und Leute im Radio darüber reden gehört. Sie wusste, dass dies so gut wie nur irgendetwas der Grund war, warum viele Leute ihre Familie hassten. Darum, und weil sie Unzeitlinge waren, sollten sie nicht allein ausgehen. Papa mochte zwar von
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