Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
nicht so ganz ab. Bevor ich die Gartenpforte abschloss, schaute ich noch einmal in den Briefkasten. Tatsächlich lag noch ein Brief für mich darin. "Vermutlich nur Werbung", dachte ich, steckte ihn aber in meine Reisetasche, um das später nachzuprüfen. Dann musste ich mich beeilen.
Die S -Bahn kam pünktlich und der Regionalexpress hatte nur 20 Minuten Verspätung. Nach meinen leidvollen Erfahrungen mit der Deutschen Bahn hatte ich mit wesentlich mehr gerechnet. Ziel meiner Fahrt war Wernigerode, wo ich seit meiner Kindheit zu Hause war. Gerade in der Weihnachtszeit gab es für mich keinen schöneren Ort auf der Welt. Doch das war nicht immer so gewesen. Während meiner Studentenzeit hatte ich mich fort gesehnt, hin zum pulsierenden Leben der Großstädte. Weihnachten war mir in dieser Zeit manchmal sogar ein Gräuel gewesen. Ich fühlte mich einfach nur genervt vom Dekorationsrausch meiner Mutter, die unsere Wohnung regelmäßig in einen Dschungel aus glitzernden Girlanden und nadelnden Gestecken verwandelte. Ebenso hasste ich den unvermeidlichen Streit meiner Eltern beim Aufstellen des Weihnachtsbaumes und mehr noch die anschließend demonstrativ zur Schau gestellte Festtagsharmonie.
Inzwischen war ich wesentlich toleranter geworden und konnte den wiederkehrenden Ritualen auch positive Seiten abgewinnen. Ich freute mich auf meine Eltern und auf meinen jüngeren Bruder Daniel, mit dem ich mich zunehmend besser verstand je älter wir beide wurden. Und natürlich auf unseren Hovawart Anton. Er war auch der Erste, der mich in der Diele unseres Hauses begrüßte und in seiner Begeisterung fast zu Boden riss. Leider bekam meine gute Laune gleich darauf einen empfindlichen Knacks. Als ich meine Sachen in meinem Zimmer abstellte, hatte ich sofort das unangenehme Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Die Anordnung der Gegenstände auf meinem Schreibtisch war verändert worden. Nun war ich wahrhaftig kein zwanghafter Ordnungsfanatiker, doch einige Dinge wie meine Notizbücher, hatten durchaus ihren festen Platz. Auf dem lagen sie jetzt nicht mehr. Hatte meine Mutter hier etwa aufgeräumt, obwohl ich sie ausdrücklich gebeten hatte, dies nicht zu tun?
In dem Moment entdeckte ich den Bücherstapel und meinen roten Pullover. Marko war hier gewesen! Er hatte mir endlich meine restlichen Sachen gebracht und sich bei der Gelegenheit gleich noch ein wenig auf meinem Schreibtisch umgesehen. Vielleicht auch noch anderswo! Bei dem Gedanken verspürte ich ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend. Ich wollte keinen Streit, doch ich musste meine Mutter darauf ansprechen. Sie gab sich völlig arglos. "Warum sollte ich Marko denn nicht in dein Zimmer lassen? Schließlich ist er fast zwei Jahre bei uns ein- und ausgegangen. Soll ich ihn jetzt plötzlich behandeln wie einen Fremden?"
Ich versuchte den Ärger in meiner Stimme in Grenzen zu halten: "Ja, das sollst du, denn das ist er jetzt für mich. Wir sind schließlich nicht mehr zusammen." Meine Mutter schien das nicht so recht einzusehen und versuchte dem Thema eine andere, ihr genehmere Wendung zu geben. "Ist es mit dir und Marko wirklich endgültig aus?", wollte sie wissen. Ich bejahte das mit Nachdruck und ihre Miene drückte tiefes Bedauern aus. Irgendwie konnte ich sie sogar verstehen. Meine Mutter hatte Marko gemocht. Mit seiner Beredsamkeit und seinem Charme verstand er es, Menschen für sich einzunehmen. Auch ich war dem zunächst erlegen. Doch mit der Zeit musste ich auch seine weniger angenehmen Seiten kennen lernen. Sein Egozentrismus und seine Launenhaftigkeit hatten das Zusammenleben mit ihm erst anstrengend und schließlich unerträglich werden lassen.
Zu meiner Verwunderung hatte Marko das Ende unserer Beziehung nicht hinnehmen wollen. Einmal hatte er mich sogar noch in der Praxis besucht. Von Ruth war er wohl sehr beeindruckt gewesen, denn er hatte sie sofort mit einer regelrechten Charmeoffensive überschüttet. Doch Ruth ließ sich nicht täuschen. "Das ist ein Narzisst wie er im Buche steht", sagte sie hinterher zu mir. "Dessen Ego ist so aufgeblasen, dass es kaum durch die Tür passt. Deshalb kann er die Kränkung von dir verlassen worden zu sein, nicht verwinden und will unbedingt doch noch das letzte Wort behalten."
So sehr mich Ruths präzise Analyse auch beeindruckt hatte, der letzte Satz erschreckte mich nicht. Ich würde zu verhindern wissen, dass Marko sich weiterhin in mein Leben einmischte. Inzwischen sah ich das ein wenig anders und meine
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