Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
sie tatsächlich selbst die Quelle war. Natürlich haben wir diesen Punkt nicht berührt. Es scheint mir im Moment auch nicht so wichtig zu sein. Ihre Erklärung, weshalb sie nicht über den Vorfall im Internat reden möchte, war jedenfalls nachvollziehbar. Wir werden uns ab Montag gemeinsam auf die Spuren ihrer Kindheit begeben. Es ist sicher gut, wenn wir ganz beim Anfang beginnen."
"Es muss ein Trauma in ihrer Kindheit gegeben haben", meinte Ruth. "Sonst wären ihre Erinnerungen nicht so radikal ausgelöscht worden."
"Ich werde behutsam vorgehen", sagte ich, "und in erster Linie an das anknüpfen, was sie noch weiß. Das sind ausschließlich positive Erinnerungen. Das Vorbereitungsgespräch für die Hypnose haben wir bereits geführt. Sie hat da ganz realistische Vorstellungen."
"Dann hat sie anderen Leuten einiges voraus", meinte Ruth und tippte mit resignierter Miene auf ein Schreiben, das vor ihr lag. "Schon wieder eine Anfrage, ob ich eine Zeugin unter Hypnose vernehmen könnte. Diesmal aus Hamburg."
Ich wunderte mich nicht darüber. Ruth erhielt häufig solche Anfragen, doch die meisten lehnte sie ab. Vermutlich würde es auch dieser so ergehen, denn eine Hypnose erschien unter den gegebenen Umständen wenig erfolgversprechend. Das sah ich genauso, nachdem Ruth mir die Umstände der Tat kurz geschildert hatte. Demnach war die Zeugin zugleich das Opfer eines Überfalls auf einen kleinen Laden gewesen. Es war bereits die dritte derartige Tat, offenbar vom gleichen Täter ausgeführt. In einem Fall hatte der Ladeninhaber sich zur Wehr gesetzt und war daraufhin erschossen worden. Nun wurde auf Hochtouren ermittelt, nur gab es leider keine Beschreibung des Täters. Als der maskierte Mann mit vorgehaltener Waffe ihren Laden betrat, hatte das Opfer des dritten Überfalls sich hinter der Ladentheke zu Boden geworfen. Zu ihrem Glück stand die Kasse in dem Moment offen und der Mann verschwand mit dem Geld, ohne von der Frau Notiz zu nehmen. Sie wagte sich trotzdem erst lange danach aus ihrer Deckung hervor.
"In dieser Situation konnte die Frau definitiv nichts erkennen. Daran würde auch die Hypnose nichts ändern. Manche Leute halten den Zustand der Trance für eine Art Zeitreise. Sie glauben offenbar, dann könnte die Frau sich nachträglich aufrichten, über die Theke hinwegsehen und den Täter am besten gleich noch nach Name und Anschrift fragen." Ruth schüttelte den Kopf.
"Dein Erfolg hat sich nun mal herumgesprochen", sagte ich. "Das hat Erwartungen geweckt."
Vor drei Jahren hatte Ruths Freund Gernot wegen eines aufsehenerregenden Falles ziemlich unter Druck gestanden. Mehrere junge Frauen und Mädchen waren Opfer eines Serienvergewaltigers geworden. Ein Mädchen hatte er schwer verletzt, und da seine Übergriffe an Brutalität zunahmen, fürchtete man bald das erste Todesopfer beklagen zu müssen. Zwar ließ sich sein Aktionsradius eingrenzen, jedoch gab es keine brauchbare Täterbeschreibung, weil er stets maskiert auftrat.
Eines der Opfer erklärte sich bereit unter Hypnose zu versuchen, sich an mögliche Details zu erinnern. Ruth hatte das zunächst abgelehnt. Sie empfand es als unzumutbar, die Frau dieser emotionalen Belastung auszusetzen. Doch sie hatte darauf bestanden. "Ich will alles versuchen, weil ich verhindern will, dass eine meiner Töchter vielleicht sein nächstes Opfer wird", war ihre Begründung gewesen.
Tatsächlich brachte es den Durchbruch. In Trance erinnerte sich die Frau daran, dass von dem Täter ein ganz besonderer Duft ausgegangen war, der überhaupt nicht zu der beängstigenden Situation gepasst hatte. Es war der angenehme Duft nach frischem Heu gewesen. Die Polizeibeamten schwärmten aus, um zu ermitteln, wo in den vergangenen Tagen Heu gemacht worden war. Schon der dritte Hinweis führte zum Täter, der kurz darauf ein Geständnis ablegte.
Ruth war wie eine Heldin gefeiert worden, die Zeitungen berichteten über sie und mehrere Talkshows wollten sie unbedingt als Gast haben. Ihr war der Rummel überhaupt nicht recht. Sie versuchte zu erläutern, dass sich ihr Erfolg in diesem Falle durch die besonderen Umstände erklären ließ. Der Täter war der Frau körperlich sehr nahe gekommen und natürlich hatte sie seinen besonderen Geruch dadurch wahrgenommen. Die Frau liebte den Duft frischen Heus und verband ihn mit Sommer, Ferien auf dem Land und Entspannung. Diese Assoziationen standen in völligem Widerspruch zu der Gewalt, die der Täter ihr unmittelbar danach antat und zu
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