Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
gearbeitet hatte. Das Bild war für die Ausstellung vorgesehen. An dieser Stelle hat die Schulleitung von den Vorgängen erfahren und hart durchgegriffen. Die Übeltäterin sollte sogar von der Schule verwiesen werden. Ihre sehr einflussreiche Familie konnte das gerade noch verhindern. Wahrscheinlich hat sie ihre Argumentation mit einer kräftigen Spende untermauert. Das Töchterchen entschuldigte sich brav bei Melissa und ließ sie von Stund an in Frieden. Sechs Wochen dauerte der Burgfrieden mittlerweile an. Doch nun erhob sich der Verdacht, dass die immer noch Rachsüchtige nur die Gelegenheit abgewartet hatte, nach dem Bild auch dessen Schöpferin zu zerstören."
"Klingt plausibel", fand ich. "Wieso hat der Verdacht gegen dieses Mädchen in dem Zeitungsartikel so gar keine Rolle gespielt?"
"Weil deren Familie sofort eine ganze Armada hoch bezahlter Anwälte in Marsch gesetzt hat. Der Verdacht gegen das Mädchen war schnell aus der Welt, als mehrere Mitschüler und sogar ein Lehrer bezeugten, sie seien während der Veranstaltung ununterbrochen mit dem Mädchen in Kontakt gewesen. Sie hätte gar keine Möglichkeit gehabt, etwas in die Flasche zu schütten."
"Und dann blieb der Verdacht an Melissa hängen?"
"Mehr oder weniger", meinte Ruth. Zum Kreis der Verdächtigen hatte sie natürlich von Anfang an gehört, wenn auch der Verdacht gegen sie zunächst nicht stark war. So richtig befeuert wurde er dann ausgerechnet von Julias Mutter. Sie behauptete, Melissa habe ihre Tochter dafür bestrafen wollen, dass sie in diesem Jahr nicht wie sonst von der Familie auf die Urlaubsreise mitgenommen werden sollte."
"Aber die Mädchen waren doch nach wie vor befreundet", wandte ich ein.
"Das schon, aber das Verhältnis hatte sich tatsächlich abgekühlt, wenn man den Aussagen der Zeugen Glauben schenken darf. Außerdem behauptete Julias Mutter plötzlich, vor Melissa gewarnt worden zu sein. Aber dazu wollte sie dann später nichts Genaueres mehr sagen. Jedenfalls reichten ihre dunklen Andeutungen nicht aus, daraus ein Motiv für Melissa zu konstruieren. Außerdem blieb ja immer noch die Möglichkeit eines ganz anderen Täters. Jemand, dem die Mädchen völlig unbekannt und gleichgültig waren. Der einfach dem Ansehen des Internats schaden wollte. Was ihm auch gelungen ist. Die Anmeldungen gingen danach drastisch zurück. Für einen Außenstehenden als Täter spricht auch noch etwas anderes", fuhr Ruth fort, "und zwar die Art des verwendeten Giftes. Es handelte sich um Parathion, das sogenannte Wormser Gift."
Ich hatte noch nie davon gehört.
"Mir war es auch kein Begriff", gab Ruth zu, "aber Ben hat es mir erklärt."
Ben hieß mit vollem Namen Benjamin und war Ruths Ehemann. Er arbeitete als Rechtsmediziner. Allerdings nicht als Pathologe, sondern auf klinischem Gebiet, was bedeutet, dass er es ausschließlich mit Lebenden zu tun hat. Die Begutachtung von Verletzungen aller Art war sein Spezialgebiet. Außerdem kannte er sich auch ziemlich gut mit Toxikologie aus.
"Parathion ist eigentlich ein Schädlingsbekämpfungsmittel und wurde früher unter der Bezeichnung E605 gehandelt. Seit 2002 ist es in der EU verboten. Es ist ein ziemlich übles Zeug, ein Nervengift, das zu Krämpfen und Atemlähmung führt. In den fünfziger Jahren hat eine Frau in Worms damit drei Menschen umgebracht, daher Wormser Gift. Der Fall erregte großes Aufsehen und es war der Beginn der traurigen Karriere des Parathion als Mordgift."
"Es passieren also des öfteren Morde damit?"
Ruth schüttelte den Kopf. "Nein, überhaupt nicht. Es hat seine Popularität schnell eingebüßt, als dem handelsüblichen Produkt Farb- und Geruchsstoffe zugesetzt wurden. Reines Parathion ist nämlich farb- und geruchslos, weshalb es zuvor so beliebt war. Außerdem ist es sehr leicht nachzuweisen, ein Kinderspiel für jeden Forensiker. Das macht den Fall ja so besonders, dass es hier vom Täter eingesetzt wurde. Er hat vermutlich aus dem Verborgenen heraus zugeschlagen, fühlte sich sicher vor Entdeckung."
"Wenn es schon lange nicht mehr auf dem europäischen Markt ist, lässt es sich dann überhaupt so leicht beschaffen?"
Ruth seufzte resigniert. "Leider ja. Es gibt sogar Landwirte, die es sich noch immer illegal beschaffen. Ab und an findet man bei Überprüfungen Spuren davon im Gemüse."
"Das klingt ja gruselig."
"Das ist es auch. Aber das Zeug ist beliebt, weil es wirklich alles umbringt."
"Auch Menschen."
"Ja, bei entsprechender Dosierung innerhalb
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