Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
sagte sie. "Damals im Internat, nachdem das mit Julia passiert ist, wurde ich mehrmals von einer Beamtin verhört. Sie war eigentlich sehr nett und auch die Verhöre verliefen ganz anders als ich mir das vorgestellt hatte. Manchmal war es wie eine lockere Unterhaltung. Aber sie hat mir Fragen gestellt, mit denen ich überhaupt nichts anfangen konnte. Wie ich als Kind so gewesen sei, wollte sie wissen, worüber ich mich geärgert und was ich mir gewünscht hätte. Ich wusste es einfach nicht, konnte nur dasitzen und sie dumm anstarren. Mir wurde plötzlich klar, dass an der Stelle, wo bei anderen Menschen die Erinnerungen an ihre Kindheit sind, bei mir ein großes schwarzes Loch klafft. Ich wollte dieses Loch unbedingt füllen, bevor es den Rest von mir verschlingt. Das bekam für mich eine ungeheure Wichtigkeit."
Melissa sah mir eindringlich in die Augen und ich nickte ihr zu.
"Von der Internatsleitung wurde ich in dieser Phase auch zum Schulpsychologen geschickt. Ich habe versucht, ihm mein Problem zu erklären, doch der hat mir gar nicht richtig zugehört. Er wollte nur über Julias Tod und meine Schuldgefühle reden, die ich deshalb doch sicher hätte. Aber ich mag es nicht, wenn mir andere vorschreiben wollen, was ich fühlen soll. Da bin ich einfach nicht wieder hingegangen.
Und jetzt wollte ich verhindern, dass es genau so läuft. Ich hatte Angst, du würdest auch sofort über diesen ungeklärten Mord reden wollen, weil der doch Spuren in meiner Seele hinterlassen haben müsste. Aber ich will nicht mehr darüber reden. Ich fühle deutlich, dass es mich einfach nicht weiterbringt. Ich möchte stattdessen meine Kindheit wiederfinden. Dabei sollst Du mir helfen!"
"Ja", sagte ich, "ich werde dir dabei helfen. Du allein bestimmst, wie schnell wir vorangehen werden."
Melissa lächelte mir dankbar zu. Doch dann wurde ihr Blick bekümmert.
"Jetzt habe ich so viel erzählt, dass die Stunde fast um ist. Nun können wir wohl gar nicht mehr richtig anfangen?"
Ich beruhigte sie: "Wir werden jetzt noch das Vorgehen bei der Hypnose besprechen und deine wichtigsten Fragen dazu klären. Dann ersparen wir uns das in der nächsten Stunde und können gleich richtig beginnen."
Melissa war zufrieden. Es stellte sich heraus, dass sie bereits besser über Hypnose informiert war als die meisten anderen Patienten. Einige der am häufigsten gestellten Fragen spielten für sie keine Rolle. Sie hatte keine Angst davor, eventuell nicht wieder aus der Trance zu erwachen. Auch hatte sie keine Befürchtungen, die Kontrolle über den eigenen Willen zu verlieren.
Melissa interessierte sich vor allem dafür, ob sie sich hinterher auch an alles erinnern würde, was sie im Zustand der Trance erfahren hatte. "Weißt du", sagte sie, "ich träume oft von meinen Eltern. In diesen Träumen scheint plötzlich alles ganz deutlich vor mir zu stehen. Beim Aufwachen will ich es dann unbedingt festhalten, aber es gelingt mir nie. Die Bilder lösen sich vor meinen Augen in Dunst auf. Ich bin dann jedes Mal richtig verzweifelt. Und ich will nicht, dass es mit der Hypnose genauso läuft."
Ich konnte ihr versichern, dass das nicht geschehen würde.
Viel Zeit blieb uns nicht mehr, doch ich wollte noch Melissas Hypnotisierbarkeit überprüfen. Bezüglich der Einleitung einer Trance war ich nicht festgelegt. Ich wandte unterschiedliche Methoden der Induktion an, je nachdem, was mir für den Patienten am angemessensten erschien. Für Melissa griff ich zum klassischen Pendel. Ihre Augen folgten seinen sanften Schwingungen und bereits nach wenigen Minuten begannen Melissas Augenlider zu flattern. Ich wies sie nun an, ihre Augen zu schließen und sie glitt so leicht und entspannt in die Trance, wie ein Schwan ins Wasser.
Als ich sie in die Gegenwart zurück holte, wirkte sie enttäuscht.
"Schade, ich hätte gern gleich weiter gemacht", sagte sie.
"Am Montag machen wir weiter, und dann machen wir es richtig", versicherte ich.
Sie strahlte mich an wie ein Kind, dem man eine große Überraschung versprochen hatte.
12.
Nachdem ich Melissa verabschiedet hatte, begab ich mich in die Küche. Ruth hatte dort offenbar schon auf mich gewartet. Sie saß am Tisch und sah mich aus ihren grünen Katzenaugen erwartungsvoll an.
"Und wie ist es gelaufen?", fragte sie.
"Richtig gut", sagte ich zuversichtlich. "Melissa war nicht überrascht, als ich sie auf Dahrenried angesprochen habe. Es hat sie überhaupt nicht interessiert, woher ich das wusste. Vermutlich, weil
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