Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
scheiden lassen, aber dann ist das Haus weg und für jeden von uns bleibt ein Berg Schulden übrig. Das geht doch nicht, mit Schulden auf der Straße sitzen. Das Haus ist unser Gefängnis."
In diesem Gefängnis spielten sich die Szenen einer Ehe ab, die nur noch aus Streit und gegenseitigen Gehässigkeiten bestand. Auch Gewalt war schon vorgekommen. Als ich nachfragte, ob sie von ihrem Mann geschlagen werde, winkte Frau Stammer lässig ab. "Er von mir auch. Wir bleiben uns da gegenseitig nichts schuldig."
Ich stellte mir vor, wie sich ein 13-jähriger Junge in diesem vergifteten Familienklima fühlen musste. Als ich sie auf das Problem ansprach, gab ich ihr das Stichwort für ihr Lieblingsthema.
"Ich sage ja auch, dass der Junge da raus muss", schimpfte sie. "Statt auf ihm rumzuhacken und mit Schulverweis zu drohen, sollen sie doch alle zulassen, dass der Wolfgang und ich zusammenkommen. Dann wird alles gut."
Wolfgang Gerlach war der Mathematiklehrer von Raphael. Frau Stammer berichtete ausführlich von ihrer ersten Begegnung und ihre Wangen glühten dabei vor Aufregung.
"Also als ich den Wolfgang kennengelernt habe, da hatte ich noch keine Ahnung, dass er der neue Mathelehrer von Raffi ist. Er war ja ganz neu an der Schule. Ich habe auf der Volkshochschule einen Computerkurs für Fortgeschrittene besucht. Ich arbeite zwar noch in einem Baumarkt, aber es wird schon lange gemunkelt, dass der bald dicht gemacht wird. Deshalb wollte ich meine Chancen auf einen neuen Job verbessern und habe mich für den Kurs angemeldet. Und geleitet wurde der von Wolfgang Gerlach. Als ich zum ersten Mal da hingegangen bin, habe ich den Raum nicht gleich gefunden. Und dann stand da ein Mann auf dem Flur. Den habe ich gefragt, wo denn der Computerkurs stattfindet. Da hat er mir ganz galant seinen Arm gereicht und gesagt: 'Kommen Sie mit, schöne Frau, bei mir sind Sie richtig.' Das war Wolfgang. Bei mir ist der Funke gleich übergesprungen, aber bei ihm auch. Er hat den Kurs dann irgendwie nur für mich gehalten. Den anderen hat er kurz was erklärt und sie dann machen lassen. Aber zu mir ist er jedes Mal hingekommen und hat es mit mir zusammen gemacht. Dann hat er immer seine Arme um mich gelegt, und das nicht nur, um an die Tastatur zu kommen. Es war wunderbar. Bestimmt hätte er mich nach dem Kurs noch eingeladen, wenn nicht jedes Mal seine Frau aufgetaucht wäre. Die muss was geahnt haben und hat ihn regelrecht bewacht. Einmal ist sie sogar vor dem Ende der Stunde reingekommen und hat auf ihre Uhr gezeigt. So benimmt man sich doch nicht!"
Frau Stammer schnaufte verächtlich. "Aber", fuhr sie fort, "nach der letzten Stunde hat es dann doch noch geklappt. Da kam sie nicht und Wolfgang hat mich nach Hause gefahren. Es hätte alles so perfekt sein können. Ingo wollte zu einem Kumpel, mit dem habe ich so bald nicht wieder gerechnet. Ich war so aufgeregt, auf der Fahrt haben wir kaum miteinander geredet. Dann war Ingo plötzlich doch da. Eine Riesenszene hat er mir gemacht, als er mich mit Wolfgang ankommen sah. War das peinlich! Wolfgang ist dann weggefahren. Was hätte er sonst auch machen sollen? Er konnte sich schließlich nicht mit Ingo prügeln. Ich habe Wolfgang noch am gleichen Tag einen langen Brief geschrieben und ihm erklärt, wie es zwischen Ingo und mir steht und dass ich mich scheiden lassen werde, um für ihn frei zu sein."
Frau Stammer richtete ihren Blick schwärmerisch in die Ferne. "Er hat mir gleich geantwortet", hauchte sie, "und mir ebenfalls seine Liebe erklärt. Allerdings hat er auch geschrieben, dass seine Frau ihn nicht freigeben will. Sie erpresst ihn mit ihrer Schwangerschaft."
"Frau Gerlach erwartet ein Kind?", fragte ich überrascht. Frau Stammer verzog angewidert das Gesicht und nickte.
"Wahrscheinlich ist es gar nicht von Wolfgang", sagte sie gehässig. "Die Frau versucht wirklich mit allen Tricks, ihn zu halten. Sie unterschlägt auch seine Post. All meine Briefe an Wolfgang habe ich mit dem Vermerk 'Annahme verweigert' zurück bekommen. Und er bekommt auch keine Gelegenheit mehr, mir zu schreiben. Zu Hause bewacht sie ihn und in der Schule passen die Kollegen auf. Nur kleine heimliche Zeichen kann er mir noch geben."
Bei dem Gedanken daran kicherte Frau Stammer wie ein verliebtes Schulmädchen. "Einmal habe ich ihn nach Schulschluss abgepasst", fuhr sie fort."Da kam auch gleich wieder ein Kollege angelaufen und hat ihn weg gelotst. Wolfgang hat ganz traurig mit den Schultern gezuckt und mir
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