Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
Kindheit und ich habe jedes Mal Mühe, sie aus der Trance zurückzuführen. Das kann aber nicht alles sein, sie scheint die Dinge zu verklären."
"Das kann sie nicht ewig durchhalten", meinte Ruth. "Arbeite einfach weiter mit ihr, dann wird sie dir irgendwann auch die dunklen Seiten zeigen: Die ihrer Vergangenheit und die ihrer Seele."
15.
Als mich der Anruf erreichte, konnte ich ihn zunächst überhaupt nicht einordnen.
"Ich hatte doch schon mal einen Termin mit Ihnen ausgemacht", sagte eine Frauenstimme. "Da konnte ich dann aber nicht kommen. Es geht ja auch gar nicht um mich, es geht um meinen Sohn. Wir haben ein großes Problem. Es ist sehr dringend."
Jetzt dämmerte mir so langsam, mit wem ich es zu tun hatte. Es war Frau Stammer, die Stalkerin, die dem Lehrer ihres Sohnes nachstellte und die deshalb von Dr. Lohmeier zu uns geschickt worden war. Doch dann war sie nicht zum Termin erschienen und hatte sich auch nicht entschuldigt. Das war im November gewesen, inzwischen hatten wir März. Kein Wunder, dass ich mich nicht gleich an sie erinnert hatte. Ein Patient, der unentschuldigt einem Termin fernblieb, hatte bei mir schlechte Aussichten, sofort einen neuen zu erhalten. Er müsste sich ganz hinten auf meiner Warteliste einreihen. Doch bei Frau Stammer lag der Fall anders. Hier ging es vor allem um das Wohl eines Kindes. Deshalb bestellte ich sie gleich für den kommenden Tag.
Diesmal kam sie sogar eine halbe Stunde zu früh. Energisch klopfte sie an meine Tür, das Schild Therapie, bitte nicht stören geflissentlich ignorierend. Sie schien enttäuscht, von mir ins Wartezimmer geschickt zu werden.
Als ich sie später dort abholte, eilte sie mir mit federnden Schritten voraus. Jede ihrer Bewegungen drückte Dringlichkeit aus. Frau Stammer war eine kleine, korpulente Person von 45 Jahren. Sie trug ein eng anliegendes, pinkfarbenes T-Shirt, auf dem eine mit Strass besetzte Applikation in Form eines Totenschädels prangte. Ergänzt wurde ihr Outfit durch Jeansleggins und bunt bestickte Westernstiefel mit langen Lederfransen. Ihr Haar war in einem sehr hellen Blondton gefärbt und wurde von einigen pinkfarbenen Strähnen durchzogen. Sie wirkte gepflegt und verströmte einen angenehm frischen Duft. Wenn man gezwungen ist, einem Menschen für längere Zeit in einem Raum gegenüber zu sitzen, lernt man solche Besonderheiten zu schätzen. Kaum hatte Frau Stammer im Sessel mir gegenüber Platz genommen, begann sie auch schon zu reden, und sie redete ohne Punkt und Komma.
"Also Sie müssen uns helfen, der Dr. Lohmeier unternimmt ja nichts. Jetzt wollen sie den Raffi von der Schule schmeißen, und das nur, um dem Wolfgang und mir eins auszuwischen. Das dürfen die doch gar nicht, das einfach an dem Jungen auslassen, meine ich, was sind denn das für Pädagogen? Es war ja schon schlimm genug, wie sie alles getan haben, um Wolfgang und mich zu trennen. Wenn ich ihn sprechen wollte, ging das angeblich immer gerade nicht. Wenn er Pausenaufsicht hatte und ich zu ihm hingegangen bin, kam immer sofort ein anderer Lehrer angerannt und holte ihn weg. Aber hinter all dem steckt natürlich seine Frau. Die ist nämlich auch Lehrerin, zwar an einer anderen Schule, aber die halten doch alle zusammen. Und dem Ingo traue ich zu, dass er genauso seine Finger drin hat. Der gönnt mir mein Glück mit Wolfgang nicht. Die könnten mich ja alle mal, aber es jetzt an dem Jungen auszulassen, das geht nicht, da fehlen mir einfach die Worte ...!"
Dass Frau Stammer die Worte fehlen könnten, war für mich schwer vorstellbar, doch zumindest musste sie einmal Luft holen. Dadurch bekam ich Gelegenheit, ihr ein paar Fragen zu stellen, die Struktur in ihre Darlegungen brachten.
Annette Stammer war seit über 20 Jahren mit Ingo Stammer verheiratet und bezeichnete diese Ehe als einen großen Fehler.
"Wir haben viel zu jung geheiratet", sagte sie. "Es lief schon am Anfang nicht gut mit uns, aber dann wurde der Raffi geboren und wir haben das Haus gebaut."
Raffi hieß eigentlich Raphael und war ihr 13-jähriger Sohn. Der Hausbau war nach ihrer Ansicht der zweite riesengroße Fehler ihres Lebens.
"Ich hätte es besser wissen müssen", schimpfte sie, "der Ingo bringt doch nie etwas Richtiges zustande, mit dem hätte ich doch nie ein Haus bauen dürfen. Wir leben seit 10 Jahren auf einer Baustelle. Das Geld ist auch knapp, wir können gerade so die Kreditzinsen zahlen. Der Ingo hält es doch auf keiner Arbeitsstelle lange aus. Wir hätten uns ja
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