Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
dachte, die fangen gleich an, sich zu prügeln. Der Junge stand da und wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Das alles auch noch vor den Augen seines Lehrers! Ich bin schnell weggefahren. Was hätte ich sonst machen sollen?"
Wolfgang Gerlach schwieg einen Moment und rauchte gierig. Seine Hand zitterte leicht.
"Hat sich Frau Stammer danach bei Ihnen gemeldet?", hakte ich nach.
Er nickte. "Am nächsten Tag bekam ich einen Brief von ihr. Erst da habe ich begriffen, was mit ihr los ist. Ich dachte zunächst, sie schreibt mir eine kleine Entschuldigung für den Auftritt am Vortag. Das wäre ja ganz angemessen gewesen. Aber sie schrieb mir einen acht Seiten langen Liebesbrief. Sie erklärte darin unter anderem, dass sie sich scheiden lassen und mit mir leben wolle. Ich war völlig sprachlos."
"Wie haben Sie auf diesen Brief reagiert?", fragte ich.
"Ich habe ihr auch geschrieben. Habe erklärt, weshalb das nicht möglich ist."
"Herr Gerlach", sagte ich, "können Sie sich noch in etwa erinnern, was Sie ihr geschrieben haben?"
Er nickte. "Das weiß ich ziemlich genau. Ich habe ja lange überlegt, wie ich den Brief abfasse. Schließlich will man so einen Menschen nicht unnötig verletzen. Ich habe geschrieben, dass sie eine tolle Frau ist, und dass sich ein Mann glücklich schätzen kann, wenn sie ihm Zuneigung entgegenbringt. Ich sei aber glücklich verheiratet und eine Beziehung zwischen uns komme daher nicht in Frage. Dann habe ich nur noch über Raphaels schulische Probleme geschrieben, um den Tenor auf die Lehrer-Eltern Beziehung zu legen. Ich dachte, so könnten wir in Zukunft wieder sachlich miteinander umgehen. Da habe ich mich leider geirrt."
Ja, das hatte er - und zwar gründlich. Frau Stammer hatte nur die Passagen des Briefes wahrgenommen, die in ihr Konzept passten. Sie hatte ihn mit Liebesbekundungen förmlich bombardiert. Inzwischen war er ziemlich ratlos, wie es weitergehen sollte.
"Da ich der Lehrer ihres Sohnes bin, hat sie immer noch Möglichkeiten, an mich heranzukommen. Sie gibt dem armen Jungen Liebesbriefchen mit. Sie taucht in jeder Elternsprechstunde auf. Ich muss immer einen Kollegen dazu bitten. Ich kann mich doch nicht ewig verstecken."
Wolfgang Gerlach machte deutlich, dass er an einem von mir moderierten Gespräch mit Frau Stammer interessiert sei. Ich versprach ihm, diese Möglichkeit zu prüfen und mich wieder bei ihm zu melden. Dann verabschiedete ich mich. Herr Gerlach wollte noch auf der Bank bleiben, um in Ruhe eine letzte Zigarette zu rauchen.
18.
Mein Heimweg führte am Café in der Ahornstrasse vorbei. In Gedanken war ich noch bei meinem Gespräch mit Wolfgang Gerlach, als mich ein Klopfen an der Fensterscheibe aufblicken ließ. An einem Tisch direkt am Fenster saß Melissa und winkte mir aufgeregt zu. Das war nicht einfach ein freundlicher Gruß, aus ihren Blicken und Gesten sprach die blanke Panik. Irgend etwas schien ganz und gar nicht in Ordnung zu sein. Ohne zu zögern betrat ich das um diese Zeit fast leere Café und ließ mich auf dem Stuhl gegenüber von Melissa nieder. Sie atmete sehr schnell und ihre Stimme klang gehetzt, als sie zu sprechen begann: "Gott sei Dank, dass du da bist. Ich kippe gleich um."
Sie hatte ganz offensichtlich eine Panikattacke. Ich ging nicht darauf ein, sondern zog statt dessen meine Halskette mit dem Anhänger aus dem Ausschnitt meines Pullovers. Es war der Anhänger, der mir während unserer Hypnosesitzungen als Pendel diente, ein schön geschliffener Lapislazuli in einer silbernen Art déco Fassung.
"Schau her Melissa", sagte ich, "welches Schmuckstück ich heute trage. Ich habe es von meiner Großmutter bekommen. Sie war eine wunderbare Frau, eine tiefe Ruhe ging von ihr aus. In jeder Situation blieb sie völlig ruhig und gelassen ." Während ich ganz langsam und betont sprach, ließ ich das Pendel sanft hin und her schwingen. Melissa folgte ihm mit ihren Augen.
"Eine wunderbare Wärme strahlte meine Großmutter aus, bei ihr fühlte ich mich ganz entspannt und ganz geborgen ", sprach ich weiter. Melissas Atem ging wieder ruhig, sie war kurz davor, in die Trance zu gleiten.
"So, Melissa", sagte ich, "jetzt besorge ich uns eins, zwei, drei etwas zu trinken, damit wir wieder frisch und munter sind."
Sie schaute mich an, als wäre sie gerade aufgewacht. Dann lachte sie: "Ich habe mir doch schon immer gedacht, dass du zaubern kannst. Jetzt ist alles wieder in Ordnung mit mir. Was war das, hast du mich eben
Weitere Kostenlose Bücher