Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
Kindheit hinzu. Weitere Personen tauchten aus dem Nebel des Vergessens auf. Da war zum Beispiel die geliebte Omi, an die sich Melissa nun wieder deutlich erinnern konnte.
"Sie war die Mutter meines Vaters", sagte sie, "da bin ich mir ziemlich sicher. Sie war oft bei uns, aber ob sie auch im Haus lebte, weiß ich nicht. Sie war sehr lieb zu mir. Einen Opa gab es auch, aber an den erinnere ich mich nur undeutlich, er war selten da und hat sich nie mit mir beschäftigt. Auch im Urlaub war oft die Oma dabei, der Opa nie. Wir sind immer ans Meer gefahren."
Dann tauchte noch ein älteres Mädchen auf, das sich ebenfalls häufig im Haus aufhielt und mit Melissa spielte. So richtig konnte Melissa sie aber nicht einordnen.
"Sie war wohl irgendwie mit uns verwandt, doch ich habe keine Ahnung, wie genau. Vielleicht war sie ja auch nur jemand aus der Nachbarschaft. Auch ihren Namen weiß ich nicht genau, Hanni oder Nanni oder so ähnlich muss ich sie genannt haben. Obwohl sie älter war als ich, ließ sie sich von mir herumkommandieren. Ich konnte wohl ein ziemliches Biest sein."
Erstaunt betrachtete Melissa diese neue Seite ihres kindlichen Ichs. Mit jeder neuen Erkenntnis wuchs ihr Selbstbewusstsein. Sie wirkte in letzter Zeit regelrecht strahlend.
An einem Tag Anfang März überraschte sie mich mit einer lapidaren Mitteilung. Ihr Kunstprofessor Thorald Tietze-Mühlberger sei nunmehr auch ihr Geliebter, sagte sie in einem nüchternen Tonfall, der diesem Ereignis nicht so recht angemessen erschien.
In Melissas bisherigem Leben hatte es, von einigen harmlosen Flirts abgesehen, noch keinen Mann gegeben. Was mich angesichts ihrer äußeren Erscheinung zunächst verwunderte, überraschte mich nicht mehr, nachdem ich mehr über sie erfahren hatte. Melissa fehlten acht Jahre ihres Lebens, sie war emotional viel jünger als ihr Alter vermuten ließ. Deshalb musste sie zunächst das Kind in sich wiederfinden, bevor sie zur Frau heranreifen konnte. Und dieser Prozess war noch nicht abgeschlossen. Daher rief ihre Neuigkeit bei mir ein ungutes Gefühl hervor.
Das sagte ich auch zu Ruth, mit der ich später wieder einmal über Melissas Fall sprach.
"Sieh an, die Schöne und das Biest", kommentierte Ruth trocken. Das Bild war treffend gewählt, denn Professor Tietze-Mühlberger war von einer markanten Hässlichkeit, die einige Frauen offenbar anziehend fanden. Er nutzte das weidlich aus und hatte häufig wechselnde Liebschaften. Seine Frau, eine gut aussehende und sehr bodenständige Person, schien das nicht weiter zu bekümmern. Sie ging ebenfalls eigene Wege. In ihrem Beruf als Bildhauerin war sie ziemlich erfolgreich und ging praktische Probleme mit der gleichen Energie an, mit der sie den Meißel handhabte. Viele ihrer Bekannten versicherten, dass Thorald Tietze-Mühlberger ohne diese Frau völlig verloren gewesen wäre und sie daher nie verlassen würde.
"Weißt du, es ist nicht so sehr die Tatsache, dass er verheiratet und über zwanzig Jahre älter ist, die mich beunruhigt", sagte ich. "Die Tietze-Mühlbergers sollen eine offene Ehe führen und sehr entspannt damit umgehen. Melissa behauptet, keine feste oder dauerhafte Bindung mit ihm anzustreben. Aber das ist mir für eine junge Frau, die ja quasi ihre erste Liebesbeziehung erlebt, einfach zu rational. Er ist für sie eher eine Vaterfigur als ein Liebhaber. Sie blickt total zu ihm auf und ich fürchte, er nutzt das aus. Melissa versucht sich mit dem zu bescheiden, was sie von ihm kriegen kann, weil sie das in ihrem Leben oft tun musste. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie nie wieder die Liebe eines Menschen für sich allein."
Ruth nickte zustimmend: Außerdem erscheint mir Tietze-Mühlberger als seelische Stütze für einen labilen Menschen wie Melissa denkbar ungeeignet. Der Mann ist eitel bis zur Selbstverliebtheit, launisch wie eine Diva und geldgierig wie ein Investmentbanker. Seine eigenen Bilder sollen sich im Moment nicht so gut verkaufen, aber ihm wird ein untrügliches Gespür für kommende Talente nachgesagt. Vermutlich ist er an Melissa nicht nur sexuell, sondern auch kommerziell interessiert. Wenn sie seine Erwartungen nicht erfüllt, wird er sie fallen lassen. Könnte sie das verkraften?"
"Wohl eher nicht", meinte ich. "Melissa ist noch nicht so weit, eine derartige Enttäuschung entsprechend zu verarbeiten. Mit unseren Hypnosesitzungen ist es ganz eigenartig. Alles, was sie dabei erlebt, erscheint in einem rosigen Licht. Sie sieht nur schöne Seiten ihrer
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