Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
sie, mich für ihre Ziele einzuspannen."
"Typisch für eine Stalkerin", sagte Ruth. "Aber es wäre nicht verkehrt, wenn du mal mit dem Gerlach reden würdest. Seine Sicht der Dinge kennen wir ja gar nicht. Vielleicht liefert dir das Gespräch mit ihm einen neuen Ansatzpunkt für die Arbeit mit deiner Patientin. Sonst kommst du einfach nicht weiter mit ihr."
Das sah ich genauso und beschloss deshalb, noch am gleichen Tag mit Wolfgang Gerlach Kontakt aufzunehmen.
17.
Erfreulicherweise hatte Wolfgang Gerlach sofort zugestimmt, sich mit mir zu treffen. Er schien selbst sehr daran interessiert zu sein. Wir verabredeten, dass ich ihn an der Schule treffen sollte. Dann wollten wir irgendwo hingehen, wo wir in Ruhe reden könnten. Wolfgang Gerlach war ein großer, hagerer Mann mit bereits leicht schütterem, hellbraunem Haar sowie lebhaften, grauen Augen. Seine Bewegungen wirkten etwas fahrig und er sprach sehr schnell. Er begrüßte mich geradezu überschwänglich und bedankte sich dafür, dass ich Zeit für ein Gespräch mit ihm aufbringen würde, obwohl doch ich diejenige gewesen war, die darum gebeten hatte. Ich konnte mir gut vorstellen wie sein jungenhafter Charme auf manche Frauen wirken mochte.
Zu meiner Überraschung schlug er vor, dass wir uns doch in einer nahe gelegenen Parkanlage auf einer Bank unterhalten könnten. Eigentlich fand ich es noch zu kühl, um längere Zeit draußen zu sitzen, doch ich stimmte zu. Den Grund seiner Wahl begriff ich, als er mich um die Erlaubnis bat, rauchen zu dürfen. Gierig sog er den Rauch der ersten Zigarette ein. Im Verlaufe unseres Gespräches würde er es auf fünf bringen. Seine Fingerkuppen waren gelb vom Nikotin, stumme Zeugnisse seiner Sucht. Da ich ihn darum gebeten hatte, erzählte mir Wolfgang Gerlach chronologisch, wie er seine Bekanntschaft mit Frau Stammer erlebt hatte.
"Sie war in meinem Computerkurs für Fortgeschrittene", begann er, "da habe ich sie zum ersten Mal gesehen. Es war bald klar, dass sie da eigentlich nicht hingehörte, sie hatte kaum ausreichende Grundkenntnisse. Aber rauswerfen konnte ich sie deshalb doch auch nicht. Ich habe sie dann mit durchgezogen, habe ihr alles extra erklärt. Natürlich habe ich auch kleine Späßchen mit ihr gemacht. Das lockert die Atmosphäre und gehört für mich einfach dazu. Außerdem hatte sie keinen leichten Stand in der Gruppe. Die anderen haben sich über ihre Schwierigkeiten mokiert. Ein paar Kursteilnehmerinnen haben sich über ihr Outfit lustig gemacht. Unsere Seniorenbarbie haben sie sie genannt. Dabei kann sich doch jeder anziehen, wie er will. Ich mag es nicht, wenn über jemanden hergezogen wird, das ist schlecht für das Gruppenklima. Deshalb habe ich Frau Stammer unterstützt und war besonders nett zu ihr. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie das derart falsch auffassen könnte."
Er runzelte die Stirn und wirkte nun etwas angespannt. Offenbar hatte er das Empfinden, sich verteidigen zu müssen. "Die Frau machte eigentlich einen ganz vernünftigen Eindruck auf mich", fuhr er fort. "Und es war ja auch für jeden zu erkennen, dass ich verheiratet bin. Meine Frau hat mich regelmäßig abgeholt, weil sie in dieser Zeit einmal in der Woche zu ihrem Gynäkologen musste. Wegen ihrer Risikoschwangerschaft wurde sie intensiv betreut und ich wollte ihr natürlich zur Seite stehen und ständig auf dem Laufenden sein. Deshalb haben wir die Termine so gelegt, dass ich immer gleich im Anschluss an den Computerkurs mit ihr hinfahren konnte."
Wolfgang Gerlach sog heftig an seiner Zigarette.
"Nach der letzten Kursstunde habe ich Frau Stammer nach Hause gefahren. An dem Tag hat es genieselt und sie stand da so verloren und schaute zu mir rüber. Ich lasse doch eine Frau nicht im Regen stehen. Außerdem wusste ich inzwischen, dass sie die Mutter eines meiner Schüler ist. Als wir bei ihrem Haus ankamen, tauchten ihr Mann und der Sohn auch gerade auf. Sie schoben und zogen einen hoch mit Brettern beladenen Fahrradanhänger. Die Bretter hatten sie mit einer Plane abgedeckt, die drohte ständig vom Wind runter geweht zu werden. Der Mann hatte wohl Angst, dass die Bretter nass werden könnten, und gestikulierte wild zu seiner Frau hin, dass sie schnell kommen und helfen sollte. Aber die hat sich plötzlich ganz komisch benommen. Ist einfach sitzen geblieben und hat starr vor sich hin geguckt. Da fing der Mann an, auf das Autodach zu trommeln. Sie sprang daraufhin raus und ging wie eine Furie auf ihn los. Ich
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