Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
schnell noch einen Schlüsselanhänger gezeigt, auf dem A. G. stand. A. G. für Annette Gerlach", setzte sie hinzu, als ich nicht gleich reagierte.
"Kann das A nicht für einen anderen Namen gestanden haben, für irgendein Familienmitglied?", wandte ich ein.
Frau Stammer schüttelte energisch den Kopf. "Nein", sagte sie bestimmt, "den Anhänger hat er für mich anfertigen lassen. Er hat mir auch noch andere Zeichen gegeben, das hier zum Beispiel."
Frau Stammer zog ein sorgfältig gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche und hielt es mir hin. Es war der Werbeprospekt eines Möbeldiscounters. Darauf richtete ein junger Mann den Zeigefinger auf den Leser. Ich will Dich stand in großen, knallroten Lettern darunter. Weiter unten wurde der Text in kleineren Buchstaben mit von unseren einmalig günstigen Preisen überzeugen fortgesetzt. Ich sah Frau Stammer verständnislos an. "Das ist Werbung", sagte ich, "die wurde überall verteilt."
"Das weiß ich", erwiderte sie ungeduldig, "aber schauen Sie doch mal genau hin, da ist noch was drauf."
Unten auf dem Prospekt war eine kleine, gezackte Linie zu erkennen. Es sah aus, als hätte da jemand probiert, ob sein Stift noch schreibt. Ich betrachtete die Krakelei verständnislos. Frau Stammer ärgerte sich über meine Begriffsstutzigkeit: "Das ist ein W, das erkennt man doch", sagte sie. "Wolfgang hat mir ein Zeichen geschickt."
Selbst wenn man die Kritzelei mit einiger Phantasie als ein W auslegen konnte, ging diese Schlussfolgerung doch zu weit. "Nehmen wir mal an, Herr Gerlach macht sich wirklich die Mühe, eine Botschaft eigenhändig in ihren Briefkasten zu stecken. Warum dann nicht gleich einen richtigen Brief?", fragte ich.
"Weil Ingo ihn zuerst sehen würde. Der hockt doch schon wieder den ganzen Tag zu Hause."
Frau Stammer hatte für alles eine Erklärung. Mir gingen allmählich die Argumente aus. Gut, dass die Stunde um war.
16.
Auch in den nächsten beiden Stunden mit Frau Stammer hatte ich das Gefühl, mich mit ihr im Kreise zu drehen. Immerhin war es mir gemeinsam mit Dr. Lohmeier gelungen, den Schulverweis für Raphael erst einmal abzuwenden.
Dr. Lohmeier setzte große Hoffnungen in meine therapeutische Arbeit. Ich war da weniger optimistisch.
Ruth hörte aufmerksam zu, als ich ihr von dem Fall berichtete.
"Eigentlich ist die Frau Stammer eine taffe Person", sagte ich. "Sie ist praktisch veranlagt, tüchtig und kann vorausschauend denken. Immerhin hat sie sich schon um ihre Weiterbildung gekümmert, obwohl sie im Moment noch Arbeit hat. Sie sieht auch nicht schlecht aus, wenn sie sich auch ein wenig zu auffällig kleidet. Aber manch einem gefällt das vielleicht. Jedenfalls kann ich mir vorstellen, dass sich durchaus ein Mann für sie interessieren könnte. Aber sie verrennt sich völlig in die aussichtslose Liebe zu Wolfgang Gerlach."
"Der Beginn ist ja noch nachvollziehbar", meinte Ruth. "Die Frau fühlt sich in einer unglücklichen Ehe gefangen. Dann trifft sie plötzlich einen charmanten Mann, der mit ihr flirtet. Liegt doch auf der Hand, dass sie sich verliebt. Seine anhaltende Freundlichkeit interpretiert sie als Erwiderung ihrer Gefühle. Erst die Sache mit seinem Liebesbrief erscheint irgendwie fragwürdig. Hat sie dir den Brief gezeigt?"
Ich schüttelte den Kopf. "Gezeigt hat sie mir nur den dubiosen Werbeprospekt."
"Vielleicht existiert dieser Brief überhaupt nicht", mutmaßte Ruth. "Oder er hat einen ganz anderen Inhalt. Denn Wolfgang Gerlach vermeidet seitdem jeden Kontakt mit ihr, das hat sie selbst bestätigt, wenn sie auch anderen die Schuld daran gibt. Was den Schlüsselanhänger und den Prospekt angeht, zeigt ihre Wahrnehmung eindeutig pathologische Züge."
"Zumindest passt es nicht zu einer erwachsenen Frau", stimmte ich zu. "Weißt du, als ich 13 war, da war ich mächtig in einen Jungen aus meiner Klasse verknallt. Er interessierte sich wohl auch für mich, war aber sehr schüchtern. Jedenfalls hat er sich mal ein Buch von mir geborgt. Nachdem er es mir zurückgegeben hatte, habe ich es Seite für Seite nach einer verborgenen Botschaft an mich durchgeblättert."
"Und hast du eine Botschaft gefunden?"
"Leider nicht."
"Das unterscheidet dich von Frau Stammer. Sie hätte eine gefunden!"
"Stimmt", stellte ich fest. "Und alles, was ihre Sicht der Dinge ins Wanken bringen könnte, blendet sie total aus. Sie erwartet von mir, dass ich ihr helfe, eine Zusammenkunft mit Wolfgang Gerlach zu organisieren. Auf jede erdenkliche Weise versucht
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