Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
war sehr daran interessiert und Frau Stammer war regelrecht begeistert. Aber als es konkret werden sollte, gab es dann doch Schwierigkeiten. Wolfgang Gerlach wollte partout nicht zu mir in die Praxis kommen. Er hatte panische Angst, gesehen zu werden. In der Schule ging es natürlich auch nicht und so wurde es schwierig, einen neutralen Ort zu finden, an dem wir ungestört reden könnten. Schließlich hat Wolfgang Gerlach vorgeschlagen, dass wir uns bei ihm zu Hause treffen und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem seine Frau mit dem inzwischen geborenen Kind bei ihrer Mutter sein wird. Ich finde die Idee nicht so gut, aber er hat darauf bestanden. Das sei unverfänglich, wenn die Mutter eines Schülers den Lehrer aufsuche, meinte er. Frau Stammer war natürlich sofort einverstanden."
Ruth schüttelte den Kopf. Auch sie fand die Idee, eine Stalkerin nach Hause zu bestellen, seltsam. Wenn Wolfgang Gerlach jedoch trotz aller Einwände darauf bestand, mussten wir es so halten.
Es war nichts Ungewöhnliches, dass unsere Patienten großen Wert auf Diskretion legten und wir trugen dem so gut wie möglich Rechnung. Am Haus gab es kein Praxisschild, nur einen dezenten Hinweis an der Klingel. Wir achteten darauf, dass die einzelnen Patienten einander möglichst nicht begegneten. Daher schienen mir die Bedenken von Wolfgang Gerlach vor diesem Hintergrund etwas übertrieben.
Allerdings gab es Patienten, deren Ängste vor Entdeckung noch wesentlich ausgeprägter waren. Erst in der vergangenen Woche war mir ein solcher Fall untergekommen.
An jenem Tag war Melissa meine letzte Patientin gewesen. Nachdem ich sie verabschiedet hatte, vervollständigte ich kurz meine Aufzeichnungen. Danach wollte ich mir in der Küche einen Kaffee machen. Als ich die Tür öffnete, stieß ich fast mit einer Frau zusammen, die daraufhin so erschrak als wäre sie von mir beim Lauschen ertappt worden.
"Wollen Sie zu mir?", fragte ich sie.
"Ja", erwiderte sie zögernd und räusperte sich, weil ihre Stimme zu versagen drohte.
"Möchten Sie sich anmelden?", fragte ich weiter. Diesmal nickte sie nur.
Ich beschloss, mich sofort darum zu kümmern. Mein Kaffee konnte warten. Also bat ich sie erst einmal in mein Zimmer. Sie nahm nur auf der Kante des Sessels Platz und wirkte dabei so angespannt als wollte sie jeden Moment die Flucht ergreifen. Ich schätzte sie auf Mitte Fünfzig. Alles an ihr wirkte wie von einem Grauschleier überzogen, angefangen von der gedrungenen Gestalt, über das störrische Haar bis hin zu den unscheinbaren Gesichtszügen. Ihr Blick war mürrisch und wachsam zugleich und sie trug eine Brille mit ziemlich starken Gläsern.
"Welches Anliegen führt Sie zu mir?" Ich lächelte ihr aufmunternd zu.
Sie ging nicht darauf ein, sondern antwortete mit einer Gegenfrage: "Sie hypnotisieren ihre Patienten. Wozu ist das gut?"
"Hypnose kann gegen Schmerzen und Ängste helfen. Oder dabei, frühere Erlebnisse zu verarbeiten. Haben Sie ein Problem in dieser Art?"
Wieder ging sie nicht auf meine Frage ein. "Funktioniert das?", wollte sie stattdessen wissen. "Erinnert man sich dann an alles, was früher passiert ist?"
"Das kommt immer auf den konkreten Fall an", erwiderte ich geduldig. "Dazu müsste ich mehr über Sie erfahren. Sagen Sie mir vielleicht erst einmal Ihren Namen?"
Sie zuckte förmlich zurück. "Nein", sagte sie dann entschieden. "Ich weiß ja noch gar nicht, ob ich wirklich hierher kommen will. Wenn ich mich dafür entscheide, will ich privat behandelt werden und anonym bleiben. Das geht doch, oder?"
"Natürlich geht das", versicherte ich. "Ich erkläre Ihnen auch gern alles, was sie wissen möchten. Aber irgendwie muss ich Sie auch anreden können."
Sie überlegte kurz. "Frau Niemand", sagte sie dann, "nennen Sie mich einfach Frau Niemand."
Fast hätte ich laut aufgelacht. Diese Frau hatte wohl zu viele Agentenfilme gesehen und verwechselte nun Diskretion mit Konspiration!
"Also gut", sagte ich, die direkte Anrede vermeidend, "gibt es etwas, woran Sie sich erinnern möchten?"
Sie schüttelte heftig den Kopf. "Es gibt eine Menge, was ich ganz gern vergessen würde. Am liebsten mein ganzes bisheriges Leben. Kennen Sie da auch eine geeignete Methode?" Ihre Stimme war voller Bitterkeit.
"Vergessen vielleicht nicht, aber Sie könnten Ihren Frieden mit der Vergangenheit machen und dann damit abschließen. Damit der Weg für einen neuen Anfang frei wird. Dazu müssten Sie allerdings bereit sein, über Ihr Leben zu reden."
"Mein
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