Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
Stuckdecken und Parkettböden. Im Wohnzimmer, in das mich Melissa führte, wirkten ihre wenigen Möbelstücke richtig verloren. Sie hatte hier lediglich ein Sofa und ein paar Regale aufgestellt, dazwischen standen Umzugskartons.
"Ich bin einfach noch nicht dazu gekommen, mich richtig einzurichten", sagte sie mit einem Schulterzucken.
Mir fiel auf, dass alle Wände kahl und überhaupt keine Bilder zu sehen waren. Als ich sie danach fragte, lächelte sie mir verschwörerisch zu: "Dann komm mal mit." Melissa führte mich in einen großen Raum auf der Rückseite des Hauses, der durch eine Glastür mit einem Wintergarten verbunden war. In der Mitte des Raumes, in dem es penetrant nach Lösungsmitteln roch, befanden sich eine Staffelei und ein mit Farbtuben und Paletten bedeckter Tisch. An den Wänden hingen und lehnten Unmengen von Bildern. Ich war schier erschlagen von der Fülle. Melissas junges Leben erschien mir fast zu kurz, um all das bereits geschaffen zu haben.
Sie schien mein Erstaunen nicht zu bemerken. "Praktisch, nicht wahr?", sagte sie. "Ich habe mein Atelier direkt in der Wohnung. Das ist ein Riesenvorteil. Weil das Parkett in diesem Raum durch einen Wasserschaden total ruiniert ist, hat mir Frau Steffen gestattet, hier zu malen. Ich kann ja nichts mehr verderben."
Fasziniert begann ich die Bilder zu betrachten. Sie waren in Technik und Stil so unterschiedlich, dass man annehmen konnte, sie würden von ganz unterschiedlichen Personen stammen.
"Ich probiere verschiedene Sachen aus", sagte Melissa als hätte sie meine Gedanken erraten.
Ich fühlte mich von einer Serie zarter Aquarelle angezogen, die fast eine ganze Wand einnahmen. Sie leuchteten in hellen Farben und zeigten blühende Gärten und romantische Landschaften. Immer wieder tauchte das Motiv eines Rosengartens auf. Als ich die Bilder länger betrachtete, fielen mir Details auf, die den ersten Eindruck zerstörten. In einem zwischen Rosenbüschen verborgenen Nest rissen Jungvögel hungrig ihre Schnäbel auf. Unterhalb des Nestes lag die tote Vogelmutter am Boden. Ihre Kehle war eine blutig klaffende Wunde. In einem Spinnennetz kämpfte ein Schmetterling verzweifelt um sein Leben. Die seinen Kampf belauernde Spinne hatte ein menschliches Gesicht, das grenzenlose Bosheit ausdrückte.
Melissas Bilder zeigten vergiftete Paradiese, in denen überall Tod und Verderben lauerten. Schaudernd wandte ich mich ab und betrachtete die Bilder an der gegenüberliegend Wand. Hier hatte Melissa in Öl und Acryl gemalt, dunkle Farben herrschten vor. Auf diesen Bildern gab es keine vorgetäuschte Idylle mehr, Düsternis und Bedrohung trafen den Betrachter mit voller Wucht. Mir fiel auf, dass auf fast allen dieser Gemälde Türme eine zentrale Rolle spielten. Ich fragte Melissa, ob eine bestimmte Symbolik dahinter stehen würde.
"Was fällt der Psychologin denn so dazu ein?", fragte sie schelmisch zurück.
"Eine ganze Menge", erwiderte ich, "aber ich bezweifele, ob ich damit das Richtige treffen würde. Entscheidend ist doch, was du damit verbindest, du ganz persönlich."
"Angst, schlicht und ergreifend panische Angst. Ich träume regelmäßig von Türmen und ich würde eher sterben als auf einen zu steigen." In ihren Augen war plötzlich ein nervöses Flackern zu erkennen, weshalb ich es vorzog, das Thema zu beenden und mich ihren anderen Bildern zuzuwenden. Am besten gefielen mir Melissas Portraits. Sie wirkten von der Malweise her klassisch und die Hintergründe, die sorgsam ausgeführt waren, verrieten etwas über die Interessen der portraitierten Person. Mir fiel das Bild eines dunkelhaarigen Mannes im mittleren Alter ins Auge, das im Hintergrund mehrere Staffeleien zeigte. Da er sowohl von einer Lampe als auch von dem Lichtschein, der durch ein großes Fenster auf ihn fiel, beleuchtet wurde, schien er sich in einem merkwürdig diffusen Fluidum zu befinden. "Ein Mann im Zwielicht", dachte ich.
"Das ist Thorald", beantwortete Melissa meine unausgesprochene Frage, "und das ist er auch." Sie deutete auf mehrere männliche Aktbilder, die hinter ihr an der Wand lehnten. Wie ein lüsterner Satyr wirkte ihr Liebhaber darauf. Ich begnügte mich mit einem flüchtigen Blick, sie näher anzuschauen, wäre mir wie ein Eindringen in Melissas Intimsphäre erschienen.
Melissa machte uns dann noch einen Tee, den wir im Wohnzimmer auf dem Sofa tranken. Er hatte ein kräftiges, exotisches Aroma. "Das ist marokkanische Minze", sagte Melissa. "Ich ziehe die Pflanzen selbst.
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