Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
gewesen. Meine Schwiegermutter hat sich dann mit Lieblingssohn und Frau auf eine endgültige Reise begeben. Sie sind ganz weit weggezogen und ich habe sie wahrhaftig nicht vermisst.
Die nächsten Jahre waren wirtschaftlich sehr schwierig. Wir mussten hohe Risiken eingehen und noch mehr arbeiten, für etwas anderes blieb da keine Zeit. Irgendwie haben wir es immer geschafft, und jetzt das ..."
Das bisher unbewegte Gesicht von Frau Niemand verzog sich zu einer tragischen Maske. Sie schien auf den dramatischen Höhepunkt ihrer Ausführungen zuzusteuern.
"Mein Mann hatte einen Herzanfall, keinen Infarkt, eigentlich nichts wirklich Besorgniserregendes. Unsere Hausärztin schwatze ihm aber trotzdem eine Kur auf und von dort kehrte er völlig verändert zurück, als hätte man ihn einer Gehirnwäsche unterzogen. Er redete plötzlich davon, wie wichtig es wäre, auf die Stimme des eigenen Körpers zu hören und dass er ein neues Leben beginnen will. Ich verstand erst gar nichts bis ich dann mitbekam, wessen Stimme da zu seinem Körper gesprochen hatte. Sie ist zehn Jahr jünger als er, blond und vollbusig. Und dafür will der Mann jetzt alles hinwerfen, den Betrieb, für den wir ein Leben lang geschuftet haben und an dem auch die Existenz unserer Kinder hängt. Und wissen Sie, was mich besonders wütend macht? Dass er sagt, mit dieser Frau könne er endlich einmal unbeschwert lachen. Wenn die mein Leben gehabt hätte, wäre ihr das Lachen auch vergangen."
Die Verbitterung der Frau, die jetzt wie ausgepumpt vor mir saß, war mit den Händen zu greifen. Ich verstand ihre Gefühle und sagte ihr das auch.
"Schön", meinte sie daraufhin trocken, "das ist doch immerhin etwas. Aber helfen werden Sie mir auch nicht können."
"Nur Sie selbst können sich letztendlich wirklich helfen und ich würde Sie gern dabei begleiten, falls Sie sich für eine Therapie entscheiden sollten."
Sie schien plötzlich zu begreifen, wo sie sich eigentlich befand und weshalb sie hier war. Ihre Erzählung hatte sie weit fortgetragen. Auf einmal hatte sie es eilig. Ich gab ihr meine Karte und sie versprach, es sich mit der Therapie zu überlegen und dann anzurufen.
"Was bin ich jetzt schuldig?", fragte sie.
"Nichts", erwiderte ich spontan, "nehmen Sie es als kostenlose Probestunde."
Überrascht sah sie mich an. "Mir ist noch nie etwas geschenkt worden. Danke." Es klang eher verbittert als erfreut.
Nachdem sie gegangen war, stellte ich fest, dass wir länger als eine Stunde geredet hatten. Auf einmal hatte ich Markos Stimme im Ohr. "Mit deinem verdammten Helfersyndrom wirst du es nicht weit bringen", hörte ich ihn sagen. "Gewöhne dir einfach an, deine Patienten als zahlende Kunden zu sehen."
Falls es jemals so weit kommen sollte, würde ich den Beruf wechseln. Das hatte ich mir geschworen.
22.
Mein Termin mit Wolfgang Gerlach und Frau Stammer verschlug mich in eine neu erbaute Reihenhaussiedlung. Erst vor wenigen Wochen waren die Gerlachs hier eingezogen, unmittelbar nach der Geburt ihrer kleinen Tochter.
Der Vorgarten wies noch Spuren der gerade abgeschlossenen Bautätigkeit auf. Zwischen Frühblühern lagen Bretter und zerbrochene Fliesen.
Ich hatte mit Frau Stammer vereinbart, vor dem Haus auf sie zu warten. Wir würden dann gemeinsam hineingehen.
Obwohl die Zeit schon um einige Minuten überschritten war, konnte ich sie noch nicht entdecken. Das verwunderte mich etwas, hatte ich doch angenommen, sie würde es sehr eilig haben, zu diesem Termin zu kommen. Eine Gruppe von Personen kam angeregt plaudernd die Straße herauf, doch Frau Stammer war nirgends zu sehen. Als sie mich dann ganz unvermittelt von hinten ansprach, schrak ich zusammen. Ich hatte ihr Kommen nicht bemerkt.
Frau Stammer war sorgfältig geschminkt und frisiert. Über einer malvenfarbenen Leggins trug sie ein locker fallendes, gelbes Kleid und eine Jeansjacke, die mit glitzernden Strassaplikationen besetzt war. "Da sind Sie ja endlich", sagte sie als wäre ich diejenige, die sich verspätet hatte.
Ich ging nicht weiter darauf ein und wollte gerade auf die Klingel drücken, als sie mich plötzlich zurückhielt.
"Ich habe es mir überlegt", sagte sie freundlich lächelnd, "es ist besser, wenn ich mit Wolfgang allein rede."
"Frau Stammer", erwiderte ich "wir haben mit Herrn Gerlach etwas anderes vereinbart, und daran werden wir uns jetzt auch halten."
Sie zog ein beleidigtes Gesicht, wie ein Kind, das seinen Willen nicht bekommen hatte. "Wenn Herr Gerlach nun aber auch
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