Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
sicher. Ihm war die ganze Situation äußerst peinlich und das hat man ihm deutlich angemerkt."
"Dass es ihm peinlich war, ist wirklich das Mindeste, was man von ihm erwarten darf. Aber was immer ihn dazu bewogen haben mag, sich derart auf die Frau einzulassen - er wird es noch bitter bereuen. Von den Beiden werden wir garantiert wieder hören."
Darauf legte ich allerdings nicht den geringsten Wert. Obwohl ich bereits ahnte, dass Ruth wieder einmal Recht behalten sollte.
23.
Im Verlaufe der nächsten Tage gelang es mir tatsächlich, die unangenehme Begebenheit weitgehend aus meinem Gedächtnis zu verbannen.
Zum Glück gab es ja auch Erfolgserlebnisse. Frau Kretschmar hatte ihre Therapie erfolgreich abschließen können. Es hatte lange gedauert, bis sie sich der notwendigen Aussprache mit ihrer Kollegin endlich stellen konnte. Immer wieder hatten wir die Situation gedanklich gemeinsam durchgespielt, hatten unterschiedliche Gesprächsverläufe besprochen. Frau Kretschmar hatte ihre Entspannungstechnik weiterhin regelmäßig geübt, um sich auch unter emotionalem Stress nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Eines Tages war es dann soweit. Als sie wieder einmal von der Kollegin brüskiert wurde, sprach sie das Problem an. Sie machte alles so wie wir es geübt hatten, blieb ruhig, sachlich und ganz konkret.
"Die Frau hat unmöglich reagiert, wurde sofort schnippisch und unsachlich. Früher hätte mich das so aufgeregt, dass ich heulend raus gerannt wäre. Aber ich habe mir einfach vorgestellt, das wäre jetzt eine unserer Übungen und Sie beobachten mich dabei. Sie wären stolz auf mich gewesen, ich wurde immer besser. Und plötzlich passierte das Wunder: Erst sprang mir ein Kollege bei und dann auch die anderen. Ich dachte doch, die wären alle auf ihrer Seite und nun haben sie mich unterstützt. Schließlich war sie es, die raus gerannt ist. Ein Kollege sagte: 'Gut, dass du die mal ein bisschen zurechtgestutzt hast! Das war wirklich überfällig!' Können Sie sich das vorstellen? Die waren inzwischen alle von ihr genervt, aber keiner hat sich getraut, den Mund aufzumachen. Männer können ja so feige sein.“
Frau Kretschmar strahlte vor neuem Selbstbewusstsein. Ihren Drang zum Stehlen hatte sie überhaupt nicht mehr erwähnt. "Hat sich in Luft aufgelöst", lachte sie, als ich sie danach fragte.
Von diesem Erfolg fühlte ich mich immer noch beflügelt, als ich anschließend Melissa zu ihrer Therapiestunde begrüßte. Bei ihr war es in den vergangenen Wochen nicht so recht voran gegangen. Immer wieder fand sie sich in der Trance in dem dunklen Haus wieder und durchlebte die traumatische Szene wie sie von ihrer weinenden Mutter weggezogen wurde. "Ich weiß, dass es tatsächlich so passiert ist, doch ich kann es einfach nicht einordnen. Weder weiß ich, wo ich mich befinde, noch kann ich mich erinnern, was vorher und hinterher geschehen ist. Dabei ahne ich, dass es wichtig wäre."
Ich spürte, wie sie sich damit quälte und hatte sie schon mehrmals zu überreden versucht, die Hypnosesitzungen erst einmal eine Weile auszusetzen. Doch sie hatte das immer abgelehnt. Nun kam sie selbst mit einem neuen Vorschlag. "Ich merke, dass ich einfach nicht weiterkomme", sagte sie, " und deshalb will ich jetzt etwas in Angriff nehmen, was ich mir schon lange vorgenommen habe. Ich will in meinen Geburtsort fahren und mein Elternhaus aufsuchen. Wenn ich die Orte meiner Kindheit mit eigenen Augen wiedersehe, dann wird sich dieser Knoten in meinem Gehirn vielleicht lösen und ich kann mich erinnern."
Melissa wusste aus ihrer Geburtsurkunde, dass sie in Gröbeneck geboren war, einer Kleinstadt am Fuße des Harzes. Zwar lag diese ziemlich weit weg von Wernigerode, doch waren wir immerhin in landschaftlich ähnlichen Gegenden aufgewachsen. Melissa hatte auch die letzte Anschrift ihrer Eltern in Erfahrung gebracht. Sie würde das Haus also ohne größere Schwierigkeiten finden können.
"Und ich möchte auch zum Friedhof gehen und ihre Gräber suchen", sagte sie leise, aber entschlossen. "Ich will wissen, ob ich um sie trauern oder endlich nach ihnen forschen muss."
"Traust du dir das wirklich schon allein zu, Melissa?", fragte ich.
Sie hob den Kopf und sah mich mit einem verschmitzten Lächeln an. "Allein nicht, aber mit dir zusammen. Ich möchte, dass du mich begleitest, als meine Therapeutin."
Ich kam überhaupt nicht auf die Idee, ernsthaft zu widersprechen, denn ich war von der Aussicht auf diese Reise in Melissas Vergangenheit
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