Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
hatte hier ein reiches Erzvorkommen entdeckt, als sein Pferd ungeduldig mit dem Huf im Erdreich gescharrt und dabei die Erzader freilegt hatte.
Ich war froh, ein unverfängliches Thema gefunden zu haben, bei dem sich auch Melissa sichtlich entspannte. Herr Hartwich und ich lieferten uns einen richtigen Erzählwettstreit. Inzwischen waren wir bei Sagen angekommen, die fast überall im Harz beheimatet sind. Wir sprachen über Zwerge, über den von den Bergleuten gefürchteten Bergmönch und über die geheimnisvolle Bergkönigin. Alles war gut, bis Herr Hartwich zu einer neuen Erzählung ansetzte:
"Einmal freundete sich ein kleines Hirtenmädchen mit einem Zwerg an, der es schließlich mit in den Berg nahm, um ihr seine Welt zu zeigen. Das Mädchen sah gewaltige Schätze wie den Palast der Bergkönigin, der ganz aus Kristall war und in dem ihr Zwerge und Gnome dienten. Die Bergkönigin war sehr freundlich zu dem Mädchen und wollte es am liebsten dort behalten. Es bekam aber Sehnsucht nach seinen Eltern und ließ sich von dem Zwerg wieder aus dem Berg führen. Wie das Mädchen nun in sein Dorf zurückkam, fand es alles seltsam verändert vor. Es traf nur auf fremde Menschen und wo sein Elternhaus gestanden hatte, waren nur noch verfallene Mauern. Eine alte Frau erklärte dem Mädchen schließlich, dass es vor vielen, vielen Jahren verschwunden sei und damals nicht gefunden werden konnte. Seine Eltern und Geschwister seien lange tot und begraben, zum Beweis zeigt sie dem Mädchen auf dem Friedhof deren Gräber. Als das Mädchen begriff, dass es sein Elternhaus und seine ganze Familie verloren hatte, brach ihm vor Kummer das Herz und es war auf der Stelle tot."
Als Herr Hartwich seine Geschichte beendet hatte, hörte ich Melissa scharf ausatmen. Offenbar hatte sie bei den letzten Sätzen den Atem angehalten. "Wissen Sie weshalb ich diese Sage erzählt habe?", fragte unser Fahrer. Ich hatte keine Ahnung und wünschte nur, er hätte sie nicht erzählt.
"Also ich chatte manchmal in so einem Sagenforum", fuhr er unbeirrt fort. "Da haben wir uns auch über diese Sage ausgetauscht und da haben doch so ein paar Spinner behauptet, sie sei ein Beweis dafür, dass es schon früher Entführungen durch Ufos gegeben hätte. Genau das wäre nämlich mit dem Kind passiert. Daher sei es auch nicht gealtert, im Gegensatz zu seinen Angehörigen. Nicht zu fassen, was erwachsene Menschen so glauben."
"Warum nicht", ließ sich Melissa plötzlich vernehmen, "ich kenne sogar einen Außerirdischen. Er joggt regelmäßig an meinem Haus vorbei."
Herr Hartwich stutzte und brach dann in Gelächter aus. "Also das müssen Sie jetzt aber genauer erklären", gluckste er. "Mache ich auf der Rückfahrt", versprach Melissa. "Wir sind fast da und müssen gleich aussteigen." Tatsächlich waren wir auf dem Marktplatz von Gröbeneck angekommen. Von hier aus wollten wir zu Fuß gehen. Ich war erleichtert, dass sich Melissa so schnell wieder gefangen hatte.
25.
Gleich nach dem Aussteigen sagte mir Melissa, dass ihr einiges durchaus vertraut vorkommen würde, zum Beispiel der wie eine Blume geformte Brunnen auf dem Marktplatz. Die letzte Anschrift ihrer Eltern lautete: Unter den Föhren 1. Wir mussten nur ein einziges Mal fragen und hatten die Straße nach cirka 15 Minuten erreicht. Eigentlich handelte es sich weniger um eine Straße als um einen unbefestigten Sandweg. Auch das weckte Erinnerungen bei Melissa. "Im Sommer hatte ich immer die Sandalen voller Sand und habe das alles ins Haus geschleppt."
An die Häuser, die in großzügigen Abständen zueinander links und rechts des Weges standen, erinnerte sie sich hingegen nicht. Sie sahen auch noch recht neu aus und waren vermutlich erst später erbaut worden. Die Nummer 1 lag ganz am Ende des Weges und war ein klotziger Neubau im Bungalowstil. Melissa starrte das Haus ratlos an. "Das ist es nicht", sagte sie und wollte den Weg weitergehen, doch der endete abrupt an einer Wiese.
"Das ist aber die Nummer 1", sagte ich, "meinst Du, die Hausnummern könnten sich geändert haben? Wir standen unschlüssig vor dem Haus herum, was drinnen offenbar bemerkt worden war. Eine junge Frau öffnete die Tür, im Haus war Kindergeschrei zu hören. "Wollen Sie zu uns?", fragte die Frau.
Ich erklärte ihr, dass unter dieser Anschrift früher einmal Verwandte von uns gelebt hätten, das sei aber schon 14 Jahre her und wir würden das Haus nicht wiedererkennen.
"Können Sie auch nicht", lachte die Frau. "Das Haus steht
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