Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
antrieb.
Wir nahmen auf einer Bank am Springbrunnen Platz. Melissa wirkte jetzt wieder entspannter. Auf dem Weg hierher hatte sie sich immer wieder ängstlich umgeschaut, als würde sie eine unangenehme Entdeckung fürchten. Ich vermutete, dass sie nach dem mysteriösen dunklen Haus Ausschau hielt. Nun bestätigte sie diese Vermutung. "Dabei ist das Unsinn, ich würde das Haus wahrscheinlich überhaupt nicht erkennen, nicht einmal, wenn ich direkt davor stünde. Ich habe mich immer nur in diesem dunklen Zimmer gesehen und auf dem Hof, der aber von einer hohen Mauer umschlossen war. Auf diesem Hof war alles schwarz, der Boden, das Mauerwerk, alles. Das sah aus, als wäre es verbrannt und voller Ruß." Melissa starrte mich erschrocken an: "Meinst du, könnte es vielleicht sein...", stammelte sie unsicher.
Ich wusste, worauf sie hinaus wollte. "Sicher hat das nichts mit dem Brand deines Elternhauses zu tun", sagte ich. "Das soll doch zu dem Zeitpunkt schon leer gestanden haben. Einen Hof mit einer Mauer drumherum gab es da auch nicht, der war auf den Fotos nicht zu sehen."
Melissa gab mir recht. "Es sind einfach so viele neue Informationen", sagte sie. "Das kann einen schon durcheinander bringen."
Dabei hatten wir noch nicht einmal alle Stationen unserer Reise abgearbeitet. Die vielleicht Wichtigste lag noch vor uns. Mit einem entschlossenen "Gehen wir!", erhob sich Melissa plötzlich. Seit einer Weile schon hatte sie den Wegweiser mit der Aufschrift "Waldfriedhof" fixiert. Nun folgten wir der Richtung, die er uns wies, stumm, gefasst und erwartungsvoll.
Der Friedhof war parkartig angelegt und wirkte durch die hohen, alten Bäume sehr idyllisch. Er war viel größer als ich ihn mir vorgestellt hatte und ich fürchtete schon, dass wir die Gräber nicht so ohne Weiteres finden würden. Wir folgten dem Hauptweg, als uns die Aufschrift eines gewaltigen schwarzen Granitblocks förmlich entgegen sprang:
RUHESTÄTTE DER FAMILIE MORGENROTH
Melissa sagte nichts und obwohl wir uns nicht berührten, spürte ich, dass sie zitterte. Auch ich hatte plötzlich ein Gefühl der Enge im Hals, als ich die Aufschriften auf dem Stein entzifferte:
ADRIAN MORGENROTH
4. 3. 1968 - 25. 8. 1998
VANESSA MORGENROTH
9. 5. 1970 - 30. 8. 1998
MATTHIAS MORGENROTH
15. 2. 1994 - 30. 8. 1998
Bei Adrian und Vanessa Morgenroth musste es sich um die Eltern von Melissa handeln. Doch was hatte der dritte Name zu bedeuten? Melissa hatte nie ein Geschwisterkind erwähnt. Ich wandte mich zu ihr um und erschrak, als ich ihren Gesichtsausdruck bemerkte. Sie war leichenblass und hatte den Mund wie zum Schrei geöffnet, doch es kam kein Ton heraus.
Zum Glück befand sich unmittelbar hinter uns eine Bank. Vorsichtig nahm ich Melissas Arm und führte sie dorthin, was sie willenlos mit sich geschehen ließ. Ihr Gesicht war noch immer zu einer tragischen Maske erstarrt und ich hatte den Eindruck, dass sie etwas sagen wollte, aber nicht dazu in der Lage war.
"Lass es zu, Melissa", sagte ich sanft zu ihr, "lass es einfach geschehen."
Mit Erleichterung sah ich Tränen in ihre Augen steigen. Dann löste sich ihr Krampf und sie begann hemmungslos zu weinen. Ich nahm sie einfach nur fest in den Arm, lange saßen wir so. Melissas Tränen strömten so reichlich, dass ich an die Sage von der Prinzessin denken musste, die derart anhaltend um ihren toten Bräutigam weinte, dass an der Stelle später eine Quelle entsprang. Melissas Tränenflut hätte für mehrere Quellen gereicht. Nach einer ganzen Weile fand sie auch die Sprache wieder. Doch gingen ihre ersten Worte so im Schluchzen unter, dass ich sie kaum verstand. "Matti", flüsterte sie immer wieder, "mein kleiner Matti."
Sie konnte damit nur das Kind meinen, dessen Name unter dem ihrer Eltern in den Stein gemeißelt war. "War er dein Bruder, erinnerst du dich an ihn?", fragte ich behutsam.
Sie nickte. "Ich hatte ihn vergessen, Iris, einfach vergessen! Wie konnte ich das nur? Er war mein kleiner Bruder. Ich hatte ihn lieb und dann habe ich ihn einfach völlig vergessen, das ist doch schrecklich!"
"Du hast ihn doch gar nicht vergessen, du hast nur lange nicht an ihn gedacht. Das ist etwas anderes. Weißt du, unser Gedächtnis braucht Anstöße und Wiederholungen. Wir erinnern uns, weil wir unsere Erinnerungen immer wieder auffrischen, uns in der Familie und unter Freunden immer wieder gegenseitig fragen: Weißt du noch? Das hat dir gefehlt. Niemand hat in all den Jahren mit dir über deinen Bruder
Weitere Kostenlose Bücher