Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
später. Inzwischen hatte ich darüber nachgedacht und mir eine Erklärung zusammengereimt. Vermutlich war nur der Vater bei dem Unfall sofort tot gewesen, während die Mutter und die Kinder zunächst schwer verletzt überlebt haben könnten. Offenbar waren die Mutter und der Bruder Tage später doch noch an den Folgen verstorben, während Melissa überlebt hatte.
Sie akzeptierte diese Erklärung zwar, wurde dadurch aber erneut aus der Bahn geworfen. "Warum sind sie alle ohne mich gegangen", klagte sie. "Hätten sie mich doch mitgenommen."
"Sie würden nicht wollen, dass du so denkst. Sie wären sehr stolz auf ihre schöne, begabte Tochter, durch die auch sie weiterleben."
Melissa nickte tapfer. "Ich glaube, du hast Recht."
Dann wandte sie sich noch einmal dem Grab zu. "Ich komme bald wieder", versprach sie.
Es klang nach einem tief empfundenen Versprechen und ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendetwas sie daran hindern würde, es auch einzuhalten.
26.
Nach dem Friedhofsbesuch fühlte sich Melissa so erschöpft und emotional aufgewühlt, dass wir uns entschlossen, die Reise in ihre Vergangenheit an diesem Punkt erst einmal zu beenden. Herr Hartwich tauchte nur zehn Minuten nach unserem Anruf auf und brachte uns wohlbehalten mit dem Taxi zurück. Die Unterhaltung musste ich wiederum allein bestreiten, denn Melissa hatte es sich auf den Rücksitzen bequem gemacht und hielt die Augen fast die ganze Fahrt über geschlossen. Meine Freundin leide unter Kreislaufbeschwerden, hatte ich Herrn Hartwich erklärt, worauf er sehr verständnisvoll reagierte. Das kenne er von seiner Frau, die habe auch mächtig darunter zu leiden, meinte er. Den Abstecher nach Wernigerode hatte ich mit Rücksicht auf Melissas angegriffenen Zustand abgesagt, wofür sie mir sehr dankbar war. Ich brachte sie bis in ihre Wohnung und wir redeten noch eine halbe Stunde miteinander. Sie hätte es gern gesehen, wenn ich bei ihr geblieben wäre, doch das lehnte ich ab.
"Versuch es allein zu schaffen, ich weiß, dass du das kannst. Im Notfall rufst du mich an, ich gebe dir meine private Handynummer."
"Das ist wirklich sehr lieb von Dir. Ich werde das ganze Wochenende über zu Hause bleiben. Ich muss mich jetzt einfach erst einmal ausruhen", erklärte sie. Wenn sie tatsächlich zu Hause bliebe, würde auch ich sie anrufen und mich nach ihrem Befinden erkundigen können. Denn Melissa hatte kein Handy, seit ihrem Untertauchen nach dem Weggang von Dahrenried hatte sie nie wieder eines besessen. Sie verfügte lediglich über einen Festnetzanschluss mit einem vorsintflutlichen Apparat, den sie mit der Wohnung übernommen hatte. "Er funktioniert doch und ich telefoniere ohnehin kaum", pflegte sie hämische Bemerkungen darüber abzuwehren. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie würde sich noch immer ein wenig vor der Welt verstecken.
Wider Erwarten überstand Melissa das restliche Wochenende sehr gut, nur ein einziges Mal telefonierten wir kurz miteinander. In der darauf folgenden Woche werteten wir die Ereignisse der Fahrt nach Gröbeneck in zwei ausführlichen Gesprächen aus.
Danach war Melissa bereit und motiviert, die Hypnosesitzungen fortzuführen, mit einem interessanten Ergebnis. Es war, als würde ein schon bekannter Film noch einmal ablaufen, diesmal allerdings in restaurierter und vervollständigter Fassung. Erneut betrat Melissa das helle Haus ihrer Kindheit. Sie spielte ausgelassen mit ihren Eltern und unternahm Ausflüge mit ihnen. Doch im Unterschied zu früheren Schilderungen war nun ihr Bruder Matthias immer dabei. Er hockte hinter ihr auf dem Schlitten und klammerte sich an ihr fest. Wenn sie im Atelier ihres Vaters malen durfte, saß er neben ihr auf dem Boden und sortierte die Farbtuben. Gemeinsam planschten sie im Sommer im Meer.
Mir fiel auf, dass wiederum alle Szenen voller Harmonie waren. Hatte es wirklich nie Streit zwischen den Geschwistern gegeben? War Melissa nie eifersüchtig auf ihren Bruder gewesen? Hatte sie sich nie von ihm gestört gefühlt? Als ich sie danach fragte, zuckte sie mit den Schultern. "Ich kann mich an nichts Derartiges erinnern. Wenn ich in Trance bin, erlebe ich immer nur wunderschöne Dinge mit ihm. Ich glaube, meine Eltern sind einfach sehr klug mit uns Kindern umgegangen. Das fing schon an, als Matthias geboren wurde. Als meine Mutter aus dem Krankenhaus mit ihm nach Hause kam, hat sie mir ein Geschenk mitgebracht und dazu gesagt, es wäre von ihm. Es war ein kleines Reh aus Plüsch. Ich hatte sehr
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