Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
viele Stofftiere, doch keines habe ich so geliebt wie dieses Reh, weil es von Matthias war. Ich wünschte, ich hätte es noch."
An dieser Stelle stutzte ich. Das war eine sehr detaillierte Erinnerung, die Melissa da plötzlich zu Tage förderte. War sie wirklich echt oder handelte es sich vielleicht um eine spontane Erfindung von ihr, die das gute Verhältnis zu ihrem Bruder belegen sollte? Warum aber war ihr das so wichtig? Ich kam nicht dazu, den Gedanken weiter zu verfolgen, denn plötzlich zeigte Melissa Wut, und zwar mit einer Intensität, wie ich sie noch nie bei ihr erlebt hatte.
"Wer immer mich in dieses Waisenhaus gebracht hat, er hat mich dort abgegeben wie einen alten Koffer. Kein Foto von meiner Familie, kein einziges Spielzeug hat man mir mitgegeben. Selbst einem Hund würde man sein Lieblingsspielzeug oder seine Kuscheldecke mit ins Tierheim geben."
Tatsächlich war eines der ungelösten Rätsel in Melissas Leben, wie sie in das Waisenhaus gelangt war. Hatte sie überhaupt keine weiteren Verwandten gehabt, die sie hätten aufnehmen können? War ihre geliebte Omi zum Zeitpunkt des Todes ihrer Eltern noch am Leben gewesen? Es gab keinen Hinweis darauf und unsere Frage nach einer weiteren Grabstelle auf den Namen Morgenroth hatte auch zu keinem Ergebnis geführt. Immerhin hatte die Reise Melissa dahingehend verändert, dass sie nun anfing, Gefühle zu zeigen. Sie hatte den Tod ihrer Eltern akzeptiert, wodurch sie endlich um sie trauern konnte.
Noch einmal hatte ich sie auf ihre Bitte hin in ihrer Wohnung besucht, weil sie mir unbedingt etwas zeigen wollte. Auf einem kleinen Tischchen stand ein neues Bild, das ihre Eltern und den Bruder zeigte. Melissa hatte sie in lichten Farben vor dem Hintergrund ihres Elternhauses gemalt. Vor dem Bild standen drei Kerzen und frische Sträuße aus Vergißmeinnicht. Das Ganze wirkte wie ein kleiner Altar.
"Es tut mir gut, sie immer bei mir zu haben, wenn auch nur in dieser Form. Seitdem fühle ich mich schon ein bisschen vollständiger. Ich mache auch noch andere Fortschritte." Melissa deutete auf das Portrait eines Mädchens, das in einem der Bücherregale stand und das ich bisher noch nicht gesehen hatte. "Ich hatte es weggepackt und war bis vor kurzem nicht in der Lage, es anzusehen. Aber bald werde ich auch um sie trauern können, das spüre ich deutlich."
"Ist das ... ?", ließ ich die Frage in der Luft hängen.
Melissa nickte."Das ist Julia. Ich habe das Bild kurz vor ihrem Tod gemalt."
Es war das erste Mal, dass sie ihre Freundin überhaupt wieder erwähnte. Aufmerksam betrachtete ich das Portrait, das wiederum von der außergewöhnlichen Begabung Melissas zeugte. Ein knabenhaft schlankes, junges Mädchen war vor dem Hintergrund einer Party dargestellt, schemenhaft erkannte man tanzende Gestalten, funkelnde Gläser und zuckende Lichter. Das Mädchen war mitten in der Bewegung eingefangen. Sie befand sich im Vordergrund und strebte deutlich erkennbar auf die tanzende Menge zu. Nur kurz und fast ein wenig unwillig wandte sie sich zum Betrachter um. Sie hatte ein hübsches, schmales Gesicht, das von großen dunkelbraunen Augen beherrscht wurde. In ihrem glatten, braunen Haar steckte eine leuchtend himmelblaue Aster.
27.
Nach dem missglückten Gesprächsversuch in seinem Haus, hatte ich Wolfgang Gerlach erfolgreich aus meinen Gedanken verbannt. Umso überraschter war ich, als er plötzlich vor meiner Tür stand und ein Bild des Jammers bot. Er war sehr blass und schlecht rasiert, das Haar stand ihm in alle Richtungen vom Kopf ab. Sein Hemd war völlig zerknittert und er stank penetrant nach Zigarettenqualm. Insgesamt erweckte er den Eindruck, als hätte er unter einer Brücke geschlafen.
"Sie müssen mir helfen", stieß er hervor, sobald er meiner ansichtig wurde. "Ich weiß mir einfach keinen Rat mehr mit dieser Frau."
Mit dieser Frau war natürlich Frau Stammer gemeint, die ihn fest in ihrer Umklammerung hielt. Ich teilte ihm kühl mit, in der Angelegenheit nichts für ihn tun zu können, da Frau Stammer nicht mehr meine Patientin sei und es voraussichtlich auch nicht wieder werden würde. Wolfgang Gerlach raufte sich verzweifelt sein ohnehin wirres Haar.
"Ich weiß ja, dass ich großen Mist gebaut habe. Aber geben Sie mir doch wenigstens die Möglichkeit, mich dafür bei Ihnen zu entschuldigen und Ihnen zu erklären, weshalb ich damals gar nicht anders konnte. Die Frau hat mich doch regelrecht erpresst."
Allmählich gewann meine Neugier die Oberhand.
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