Eine Trillion Euro
starrte wie besessen auf den holographischen Bildschirm, der vor ihr in der Luft schwebte. Er war ein wenig überrascht, Laura, die Nachbarin darauf zu sehen. In dieser Folge tollte sie mit einem Protagonisten der Serie – in der Geschichte ihr Mann – im Bett herum, während ein anderer, ebenfalls nackter Mann sich unter dem Bett versteckte. Aus dem Off war lautes Lachen zu hören. Marta lachte nicht – Manuel auch nicht. »Hast du gesehen, was sie für einen Körper hat?«
»Ja, und? Hast du ihr Gehirn gesehen? Sie ist immer noch genauso dumm wie damals, als wir sie kennen gelernt haben.«
Marta drehte sich zu Manuel um. Er sah sie lange an: ihr graues Haar, die Haut, die ihr schlaff vom Hals herunterhing. Dann blickte er noch einmal auf seine eigenen Hände. Er berührte ihren Körper, strich mit der Handfläche über die ganze Länge der Figur, während er kein Auge vom Bildschirm ließ. Er fühlte weiches Fleisch, harte Knochen, trockene Haut, während auf dem Bildschirm große, feste Brüste gegen den Galan wippten, der gerade an der Reihe war. Marta sagte gar nichts, sie schaltete nur auf einen Ornament-Kanal um, wo Musik und Fraktale sanft ineinander verschwammen.
»Sie ist genauso alt wie wir, Manuel, genauso alt.« Manuel setzte sich neben sie, und sie legte ihr Gesicht an seine Brust. Manuel hatte keine Antworten und auch keine Fragen mehr. Er hatte auch in seiner Jugend, als der Null-Bedürfnis-Staat gegründet wurde, keine gehabt. Er hatte seinen Vater bis zur Erschöpfung schuften sehen, und dann war es plötzlich nicht mehr notwendig gewesen zu arbeiten. Die Maschinen erledigten alles, und dank der Kernfusion gab es auch unerschöpfliche Energiereserven. Geld war überflüssig geworden, der Staat stellte alles zur Verfügung, was für ein komfortables Leben notwendig war.
Aber nichts wurde so, wie man es ihnen versprochen hatte. Man sah es kommen, doch es war nicht zu verhindern gewesen. Das System brauchte etwas, das die Menschen dazu brachte, sich zu bewegen, etwas, mit dessen Hilfe man sich ein größeres Auto oder ein Haus mit mehr Zimmern kaufen konnte. Man musste das Geld neu erfinden.
Was war das Wertvollste? Das, was die Menschen am meisten wertschätzten? Ins Fernsehen kommen, berühmt, bekannt, mächtig sein. Nur die Elite konnte sich den Luxus leisten – bessere Autos, bessere Häuser, ein besseres Leben.
Leben, Zeit, Eurosekunden. Während er versuchte, seine schluchzende Frau zu beruhigen, überlegte Manuel, wann man die neuen, äußerst komplexen Heil- und Verjüngungsmethoden erfunden hatte. Die Menschen mussten nicht mehr arbeiten, sie wurden nicht mehr alt, und sie starben auch nicht mehr. Aber diese neuen Behandlungen waren ausgesprochen kostspielig. Vielleicht – wenn man es gewollt hätte – wäre es möglich gewesen, sie allen zur Verfügung zu stellen, aber jetzt war das System bereits etabliert. Wegen ihres immens hohen Preises in Eurosekunden waren die neuen Errungenschaften der Medizin nur den Berühmten, den Bekannten und den Mächtigen zugänglich.
Der Tod und das Alter hingegen waren immer noch gratis für alle.
Alain Dartevelle
Dem Tod entgehen zu können ist wohl einer der Träume, die ihre Wirkung nie verfehlen. Dass es auch andere, ja geradezu entgegengesetzte Leidenschaften geben mag, davon wird uns die ungewöhnliche Geschichte aus der Feder Alain Dartevelles erzählen.
1951 in Mons, Belgien, geboren, studierte Alain Dartevelle zunächst Journalismus an der Freien Universität Brüssel, dann Politik- und Verwaltungswissenschaften an der U.C.L. in Louvain-la-Neuve. Sein erster Roman Borg ou l’Agonie d’un Monstre (›Borg oder der Todeskampf eines Monstrums‹) erschien 1983. Seither hat Alain Dartevelle acht weitere Romane und an die fünfzig Kurzgeschichten veröffentlicht und gilt heute als bester Science-Fiction-Schriftsteller Belgiens. Die bekanntesten seiner Romane für Erwachsene sind Script, 1989 erschienen und in einer Welt spielend, in der das geschriebene Wort wie eine Droge zu wirken vermag; Imago, 1994, ein Porträt Sigmund Freuds auf der Grenze zwischen Genie und Wahnsinn; und 2000 La Chasse au Spectre. Daneben hat Alain Dartevelle auch Romane für Jugendliche geschrieben – L’Astre aux Idiots (›Der Stern der Idioten‹), Le Grand Transmutateur (›Der große Umwandler‹) und Océan Noir (›Schwarzer Ozean‹) gelten in Belgien schon als Klassiker der Jugendliteratur.
Alain Dartevelle sagt von seinen schriftstellerischen
Weitere Kostenlose Bücher