Eine Trillion Euro
Arbeiten, sie seien »der Zeit gestohlen«, die seine sonstige berufliche Tätigkeit für gewöhnlich weitgehend in Anspruch nimmt, und er zählt Philip K. Dick und Louis-Ferdinand Céline zu seinen Vorbildern. In der nun folgenden Erzählung nimmt er uns mit auf eine Zeitreise in eine Epoche, die für die Geschichte Europas bestimmend war wie wohl keine andere – die Französische Revolution …
Die Wahrheit über Marats Tod
von Alain Dartevelle
Auf dem Podest vor der Guillotine wird der Kopf einer hübschen Frau von einer Faust hochgehalten. Ihre Haare sind blutig und ihr Gesicht mit Speichel besudelt. Ihre Lippen scheinen noch über den Tod hinaus zu lächeln, und ihre Wangen erröten in einer letzen Gefühlsregung. Bürger Legros, ein Helfer des Henkers Sansón, hat den Kopf aufgehoben, unmittelbar nachdem die Klinge das Fleisch durchtrennt und die Wirbel des einst taubengleichen Halses zerschmettert hat. Ohne sich um die wutentbrannten, entrüsteten Schreie der Menschenmenge auf der Place da la République zu kümmern, verabreicht der Schuft Legros dem Frauengesicht zwei Ohrfeigen. Es ist eine wunderbar eingefangene Szene, ein traumhaftes Thema für jemanden, der gewisse zwielichtige Neigungen von Menschen, Neigungen zwischen Wildheit und Gefühlsduselei, festhalten und sie karikieren möchte …
Tatsächlich ist es in erster Linie diese kleine Gravur zu vier Sous, diese Zeichnung, die in cremeweiß und tiefschwarz ihre Enthauptung darstellt, der es Charlotte verdankt, in der Erinnerung des Publikums weiterzuleben – ihr Drama. So lange die Welle der Farbdrucke nicht abebbt, wird Marie-Anne-Charlotte Corday de Armans, genannt Charlotte Corday, zugleich als Dolchmörderin und Wohltäterin des Volkes gelten. Die Frau, die Marat tötete und dadurch plötzlich der Zuneigung eines Pöbels teilhaftig wurde, der in dem Rätsel Charlotte unbedingt eine Entsprechung seiner eigenen Verwirrung wiederfinden wollte.
Am entgegengesetzten Ende der ästhetischen Kette, die sich durch die Ereignisse inspirieren ließ, existiert ein weniger bekanntes, aber wesentlich hochwertigeres Bild; genau genommen handelt es sich um ein Kunstwerk. Es ist ein großes Ölgemälde, das Marat darstellt, der nur mit einem Turban bekleidet leblos in seiner Badewanne liegt. Seine Brust ist in Höhe des Herzens durchbohrt. In der linken Hand hält er einen Brief von Charlotte. Die Rechte, deren Finger immer noch die Feder halten, mit der L’Ami du Peuple geschrieben wurde, hängt leblos auf den Boden und weist sozusagen auf die dort liegende Mordwaffe hin. Das Meisterwerk ist signiert mit dem Namen Jacques-Louis David. Im Gegensatz zu dem Schundbildchen von Charlotte überlebte diese Leinwand den Wechsel der Zeiten. In ihr besteht das turbulente Leben eines Landes namens Frankreich fort.
Ich bezeichne Davids Gemälde bewusst als Meisterwerk. Obwohl ich weder Kunst noch Nachwelt mit der Elle der Geschichte messe, führt mich die Betrachtung des Bildes immer wieder auf Wege der Vergangenheit. Ich fühle mich bewegt von einem Begehren, dessen Geheimnis ich Ihnen verrate – ich sehe klar in meinem Innern –, und von einer Eingebung, die ich noch überprüfen muss: Anscheinend existieren zwischen Leben und künstlerischem Werk viel engere Beziehungen, als meine Vorurteile und die verblichene Schönheit von Museumsstücken vermuten lassen. Und so begebe ich mich in die Nacht vergangener Zeiten; ich stürze mich in einen Abgrund erloschener Leidenschaften, in dem ich ins Taumeln gerate und der meine Augen entstellt. Ich gleite an fremden Existenzen vorüber, von denen mir nichts im Sinn bleibt als Farbtupfer und der Wirbel Sarabande tanzender Körper; es sind Geister, viel zu flüchtig, um mich ihrer Gestalt zu erinnern. Ich lasse mich von der Spirale unabänderlicher Tode davontragen, deren Ängste unverändert sind, ich stürze mich kopfüber in Erinnerungen, die mich meist mit Gleichgültigkeit erfüllen und manchmal auch berühren, die es jedoch alle eilig haben, in das limbische System zurückzukehren, dem sie entsprungen sind, in die feuchte Erstarrung zusammengepresster Zeit, in die ich eintauchen will. Endlich schließe ich die Augen und erfreue mich blind der Dunkelheit.
Dann komme ich wieder zu mir. Ich öffne meine noch glasigen Augen unter der Liebkosung der Wimpern. Vom Fensterkreuz her fällt das Licht auf meinen Schreibtisch. Schräge Strahlenbündel, in denen Staub tanzt, scheinen auf Papierstapel, Rechnungsbücher,
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