Eine Trillion Euro
Massen würden die Tunnel der U-Bahn-Netze zum Einsturz, bringen.
Die perverseste Form der Sterbehilfe, verkündete eine der Schlagzeilen, die die einschlägigen Tageszeitungen schmückten.
Sterbehilfe, ja …
Sie hatten Recht, keine Frage. Vor allem die Juden verurteilten die ›fliegenden Krematorien‹ aufs Schärfste und setzten durch, das ein Slider niemals am israelischen Nachthimmel verglühen dürfe. Das Charon-Projekt war jedoch weitaus mehr als ein Werbe-Sterbe-Tourismus mit Sternschnuppenabgang, wie LE MONDE titelte, oder ein lukratives Geschäft mit der Sehnsucht Todgeweihter (F INANCIAL T IMES ).
Ich habe mir mein halbes Leben lang über Sinn und Unsinn dieser letzten Verlockung (T HE G UARDIAN ) Gedanken gemacht. Über den ethischen und moralischen Aspekt dieser Pervertierung des Lebens (I SVESTIJA ) in unserer von doppelbödiger Moral durchzogenen Gesellschaft und über den theatralischen Tod auf lebensferner Bühne (D IE Z EIT ). Und ich bin dabei auf ein Zitat gestoßen. Es sagt: Beim Sterben ist sich jeder der Nächste.
Das Charon-Projekt war eine Ausgeburt der Neuzeit. Eine Form der Euthanasie in einer Welt, in der die Technik so rasant fortschreitet, dass der Mensch und sein Verstand nicht mehr mithalten können. Eine Feuerbestattung in der Dilbert-Zukunft.
Die Kritiker – allen voran die katholische Kirche – gingen auf die Barrikaden: Ein One-Way-Ticket in die Hölle sei dieses Projekt. Alles, was die Russen mit ihrer Geschäftsidee erreichten, sei, dem Ansehen der Raumfahrt zu schaden. Es gebe gewisse Grenzen, und Charon bewege sich jenseits davon. Falls die E-Kapsel nicht wirke, verglühe der Raumfahrer elend in der Atmosphäre. Und wer könne zweifelsfrei ausschließen, dass man die Nach-mir-die-Sintflut-Nutznießer in ihren ausgebrannten Höllenmaschinen eines Tages nicht doch verschmort und verschrumpelt in einem Vorgarten fände? Oder auf einem Friedhof? Auf einem Marktplatz, einem Schulhof oder einem Kinderspielplatz? Menschen, die einen derartigen Abgang erwägen, sollten ihr Geld lieber einer karitativen Stiftung zukommen lassen, oder besser: gleich selbst eine gründen. Dies sei auf jeden Fall die bessere Alternative, sich ein ehrenvolles Andenken zu verschaffen.
›Ubique media daemon‹ taufte die Kirche das unheilige Kind. Sie gab den weltlichen Medien (und nicht John Glenn) die Schuld an allem. Zuerst die zum Tode Verurteilten, die auf eine TV-Hinrichtung bestanden, dann Selbstmorde vor laufenden Fernsehkameras – und nun diese gottlose Schnapsidee, sich ins All schießen zu lassen, um drei Tage später als Feuerball zur Erde zu stürzen wie ein gefallener Engel.
Charon hielt dagegen, dass ein Suizid keine in irgendeiner Weise moralisch verwerfliche Handlung darstellt. Im Gegenteil, das Recht auf Leben beinhalte auch das Recht auf Sterben, denn beides sei untrennbar miteinander verknüpft.
Die Wurzel der Empörung steckt zweifellos in der zivilisierten Welt. Und sie ist ein kulturelles Phänomen. Eröffnet ein Navajo-Oberhaupt seiner Familie, heute sei ein guter Tag zum Sterben, wird diese ihm fraglos zustimmen. Der alte Mann wird mit seinen Söhnen einen heiligen Platz aufsuchen, um dort aus dem Leben zu scheiden. Deutete man als Zugehöriger der modernen Gesellschaft jedoch dasselbe an, landete man entweder im Krankenhaus oder in der Psychiatrie.
Was aber, wenn diese Person aus einer Familie stammt, in der nahezu alle die genetische Veranlagung besitzen, an Krebs zu erkranken? Einer Familie, deren männliche Mitglieder außerdem dazu neigen, ihrem Dasein freiwillig ein Ende zu bereiten? Aus meiner Familie?
Entgegen dem Befund der Gerichtsmedizin bin ich davon überzeugt, dass Ron Van Arsdall noch am Leben war, als er mit seinem Wagen über die Klippe des Col Mounier schoss. Er wusste von dem Tumor, der in seinem Kopf wucherte – und der in den zwei Jahren seit seiner Entdeckung keinen einzigen spastischen Anfall ausgelöst hatte! Nur Kopfschmerzen. Vielleicht hatte mein Vater einst aus einer spontanen Laune heraus das Gaspedal niedergetreten, seine Hände vom Steuer genommen und laut gefragt: »Lieber Gott, kannst du Auto fahren?«
Seit seinem Tod hatte ich dreißig Jahre lang Zeit, um mich auf die Krankheit vorzubereiten und mir zu überlegen, was ich mit einem Erbe von 12 Millionen Euro anstellen könnte. Ich hatte mich entschieden, auf einer Reise im Weltraum aus dem Leben zu scheiden und am Ende eine Kapsel zu schlucken, anstatt in einem Krankenhaus
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