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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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stand sie auf, und überrascht bemerkte er, daß es eine Fremde war.
    »Sind Sie verrückt?« fragte er. »Wer sind Sie?«
    »Wir sind Flüchtlinge und wollen nach Sian«, sagte sie einfach.
    Sie sprach ausgezeichnet Chinesisch, wenn auch mit dem schweren Tonfall des Nordens; sie war klein und zierlich wie die Frauen seines Landes, ihr Haar so dunkel wie das der Chinesinnen — trotzdem sah er, daß sie eine Ausländerin war.
    »Wo Sie jetzt herumsitzen, wird bald ein Schlachtfeld sein, wissen Sie das nicht?« sagte er.
    »Ganz China ist ein Schlachtfeld«, gab sie müde zurück.
    »Haben Sie die Verantwortung für diese Kinder?«
    »Ja — wir müssen versuchen, über den Fluß zu kommen.«
    Er sah sie genauer an. Sie war noch ziemlich jung. Ihr dunkles Haar war straff zurückgekämmt zu einem festen Knoten, ihre Kleidung alt und verschmutzt; dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, und ihr Gesicht sah hohlwangig und ungesund aus.
    »Sie sind Ausländerin?«
    »Ja, ich bin Ausländerin.«
    »Seltsamer Beruf für eine Ausländerin!«
    Unter ihrem ruhigen, offenen Blick schien er zu fühlen, daß er nun etwas tun müsse. »Ich glaube, ich kann ein Boot für Sie bekommen« sagte er. »Allerdings müßte man dreimal fahren, um euch alle hinüberzubringen, und gefährlich ist es auch. Wenn ein japanisches Flugzeug kommt und ihr seid gerade mitten auf dem Fluß — dann gute Nacht!«
    »Es gibt keine andere Möglichkeit. Wir müssen über den Fluß.«
    »Vermutlich werden Sie in dem Dorf auf der anderen Seite auch etwas zu essen bekommen. Die Leute verlassen nicht gern ihre Häuser, auch wenn die Japaner anrücken.«
    »Ich verstehe«, sagte sie. »So war es bei uns in Yang Cheng auch.«
    Er trat an das Ufer, steckte zwei Finger in den Mund und pfiff laut dreimal auf eine besonders durchdringende Weise. Von gegenüber kamen drei Pfiffe zur Antwort. Zwei kleine Gestalten weit drüben auf dem andern Ufer schoben ein Boot ins Wasser und begannen, es über den Fluß zu rudern.
    »Ich kann Ihnen nicht genug danken«, sagte sie. »Ohne Ihre Hilfe wären wir hier alle umgekommen.«
    Der Offizier bemerkte, daß sie schwankte, als eins der Kinder sie anstieß.
    Er sah sie neugierig an. »Sie sind krank«, sagte er. »Sie müssen zum Arzt. Die nationalistischen Truppen auf der anderen Seite haben einen Arzt.«
    »Kein Grund zur Sorge«, entgegnete sie. »Wenn ich erst einmal in Sian bin, geht es mir bestimmt besser.«
    Mit frohem Geschrei füllten die Kinder das Boot, und die Soldaten ruderten es mit schnellen Schlägen zur anderen Seite. Das wiederholte sich ein paarmal, und als die letzte Gruppe bereit zum Abfahren war, half der Offizier der fremden Frau beim Einsteigen. Seine Kameraden waren nun auch nachgekommen, um bei dieser volkreichen Überfahrt behilflich zu sein. Als das Boot sich vom Ufer entfernte, kommandierte er seinen Männern: »Stillgestanden« und grüßte ernst. Über das Wasser klang sein Ruf zu ihr: »Viel Glück, Ausländerin!«
    Er drehte sich um, und während er am Ufer entlang auf seinen Posten zurückkehrte, suchte er den Himmel ab und horchte auf das Dröhnen japanischer Flugzeuge. Aber alles blieb ruhig. — Seltsam war das mit dieser Fremden. Hätte er sie in der Nähe einer größeren Stadt getroffen, so wäre ihm die Begegnung nicht so erstaunlich gewesen — aber über ein Schlachtfeld wandern mit einer ganzen Armee von zerlumpten chinesischen Kindern —, das war wirklich sonderbar.

16. Kapitel

    Sie kamen auf der anderen Seite in ein Dorf, das zwei bis drei Kilometer vom Strom entfernt lag — ein Dorf mit gastfreundlichen Menschen. Wenn auch schon Hunderte von Flüchtlingen hier durchgezogen waren, so ließen sie doch die Fremden an ihrer Mahlzeit teilnehmen. Der Dorfaldermann teilte jeder Familie ein paar Kinder zu, und als der erste Hunger gestillt war, schlüpften sie von Haus zu Haus, um zu sehen, wie es den anderen ginge. Gladys hörte ihre schrillen Stimmen fragen: »Was eßt ihr in eurem Haus?« »Wir haben Bingsis, was habt ihr gegessen?« »Wir — Mietiao!« »Oh, bloß Mietiao! Der kann uns gestohlen bleiben!« »Aber wir haben Reiskuchen dazubekommen! Stellt euch vor!«
    Es ist nur gut — dachte Gladys in tödlicher Mattigkeit —, daß sie sich keine Gedanken machen, woher die nächste Mahlzeit kommen soll...
    Im Dorf blieben sie nur so lange, bis der letzte Bissen aufgegessen war, dann ging es gleich weiter. Wenn die Japaner sich dem Fluß näherten, wollte Gladys schon so weit wie

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